Österreichs Zeitenwende: Keine Insel im Weltenlauf#
Kreiskys Reformen kündigten sich im Aufbruch der 68er an. Österreich war eingebettet in eine breitere internationale Entwicklung.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag 27. Februar 2010) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Walter Hämmerle
Große Persönlichkeiten fallen selten nicht einfach so vom Himmel, ihren Taten wird vielmehr erst durch gesellschaftliche Trends und Veränderungen der Boden aufbereitet. Im Falle Österreichs und Bruno Kreiskys waren dies die Entwicklungen der sechziger Jahre mit ihrem ökonomischen und kulturellen Aufbruch, der die etablierte konservative Weltsicht in weiten Teilen ablöste.
Die gesellschaftspolitischen Strömungen der 60er Jahre kulminierten im Jahr 1968 in Form einer linksgerichteten Bürgerrechts- und Studentenbewegung. Deren Brennpunkte lagen im Westen in den USA, Frankreich und Deutschland; im Osten konzentrierte sich das Geschehen auf die damalige CSSR, wo es zum Prager Frühling und wenig später zu dessen gewaltsamer Niederschlagung durch die Truppen des Warschauer Paktes kam. Österreich dagegen wurde von der 68er Revolution allenfalls am Rande gestreift.
Aufbruchsstimmung#
Die gesellschaftlichen Veränderungen – die Entstehung eines neuen Mittelstandes, die Emanzipation der Frauen, die neue Rolle von Bildung, die Krise von Autoritäten – führten auch zu politischen Veränderungen. John F. Kennedy sorgte in den USA bereits Anfang der 60er für eine bis dahin beispiellose Aufbruchsstimmung, 1969 eroberte mit Willy Brandt erstmals ein Sozialdemokrat mit dem Programm "Mehr Demokratie wagen" das Kanzleramt der Bonner Republik und löste eine von der CDU geführte große Koalition ab.
Nur in Österreich schienen die Uhren auf den ersten Blick anders zu gehen, wurde hier doch die große Koalition 1966 durch eine ÖVP-Alleinregierung abgelöst. Das sollte ein kurzes Intermezzo bleiben, bereits vier Jahre später folgte Kreisky seinem Freund Brandt ins Kanzleramt; von diesem übernahm er auch sein Versprechen einer „Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche“.
Für den Grazer Soziologen Max Haller eröffneten sich in den 60er Jahren für viele Menschen weltweit ganz neue Perspektiven, vor allem der Stellenwert der Bildung gewann enorm an Bedeutung. Kreisky habe diese neuen Themen entschlossen aufgegriffen und der ÖVP das Image einer Modernisierungspartei entrissen, das diese noch bei den Wahlen zuvor für sich beanspruchen konnte. Haller verweist in diesem Zusammenhang etwa auf den Umstand, dass bereits Josef Klaus in seiner Regierungserklärung die Bedeutung von Bildung betont hatte – allein, die Volkspartei blieb in den Augen der Bürger die Umsetzung schuldig. Zwar gesteht auch Haller zu, dass nur zu bestimmten Zeiten bestimmte Reformen möglich sind, also Strukturen den Lauf der Geschichte im Großen bestimmen. So gesehen hätte sich Österreich ohne Kreisky auch grundsätzlich nicht viel anders entwickelt, da eben die Zeit für dessen Reformen reif war.
Charisma des Kanzlers#
Dennoch pocht der Wissenschafter auf das Gewicht der Persönlichkeit, deren Stellenwert insbesondere in der Politikwissenschaft tendenziell unterbewertet werde: Ohne das Charisma des damaligen Bundeskanzlers hätte Österreich in den siebziger Jahren wohl kaum jenes Ansehen auf der internationalen Bühne – Stichwort Nahost-Diplomatie – erringen können. Und ohne die Persönlichkeit Kreiskys, ist Haller überzeugt, wäre es der SPÖ nicht gelungen, gleich dreimal hintereinander eine absolute Mehrheit der Stimmen hinter sich zu vereinigen.