Der vergessene Vor-Läufer#
Mauricio Diego Albala war als Leichtathlet, Organisator, Fußball-Funktionär und Journalist ein Pionier des österreichischen Sports. Vor 120 Jahren feierte er seine ersten sportlichen Erfolge.#
Von der Wiener Zeitung (Sonntag, 30. Juli 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Andreas Maier
"Ein zahlreiches sportliches Publikum, darunter viele Radfahrer" habe sich am Sonntag, 25. Juli 1897 um acht Uhr morgens in "Friedmann’s Gasthaus" bei Kilometerstein 1 in Neu-Kagran in Wien eingefunden, berichtete das "Neuigkeits-Weltblatt". Sie alle erlebten den Start der ersten modernen Laufveranstaltung auf dem Gebiet des heutigen Österreich.
Acht Läufer nahmen eine Distanz von 25,6 Kilometer in Angriff, die über Aspern, Essling und Großenzersdorf nach Osten bis zum Wendepunkt bei "Meisl’s Wirtschaft" in Oberhausen führte. Von dort ging es auf gleichem Weg zurück zum Ausgangspunkt. Fünf der acht Teilnehmer schafften es ins Ziel. Sieger war der 20-jährige Mauricio Diego Albala aus Wien in 1 Stunde 59 Minuten und 53 "2/5 Sekunden".
Man muss den Namen des Siegers wirklich genau lesen, um phonetisch nicht im Fußball der Gegenwart zu landen. Und man sollte ihn kennen. Denn Albala ist eine zentrale, wenn auch vergessene Figur aus der Frühzeit des modernen Sports in Österreich. Der am 15. Juni 1877 in Temesvar geborene sephardische Jude ist für viele Bereiche des Sports der historische Bezugspunkt. Ein bewegungs- und sprachbegabter Pionier, der noch vor Beginn des 20. Jahrhunderts an mehreren Entwicklungen in Leichtathletik und Fußball prägend beteiligt war - als Sportler, Funktionär und Journalist.
"Athletisches Sportfest"#
Rückblende 1897. Wenige Wochen nach dem 25-km-Lauf von Neu-Kagran veranstaltete der Sportclub "Hungaria" mit Mauricio Diego Albala als treibende Kraft das erste Leichtathletikmeeting in Wien. Schauplatz war die damalige "Waffenradbahn" in der Kronprinz-Rudolf-Straße (heute Lassallestraße) nahe des Pratersterns. Leichtathletikanlagen gab es keine, so fand Albala auf einer der bestehenden Radbahnen einen Austragungsort.
Der Radsport zählte damals rund 300 Vereine und erlebte bei allen, die es sich leisten konnten, einen wahren Boom. Das erste "athletische Sportfest" ging am 8. August 1897 über die Bühne. Albala selbst trat in den Läufen über die Meile und über die "Deutsche Meile" (7,5 km) an; er wurde jeweils Dritter. "Es ist nicht möglich, Alles aufzuzählen, was schlecht war", fällte die "Allgemeine Sportzeitung" ein vernichtendes Urteil - doch ein Anfang war gemacht.
Am 25. September des gleichen Jahres nahm Albala als erster Österreicher an einem "Marathon" teil. In Budapest lief er eine damals übliche 40-km-Strecke in 4:06:00 Stunden und holte den dritten Platz. Binnen zwei Monaten des Jahres 1897 brachte er damit Premieren als Laufsieger, Meeting-Organisator und Marathonläufer zustande. Erst ein Jahr später führte der oft als Urzelle der österreichischen Leichtathletik gesehene Wiener Athletiksport-Club (WAC), der bereits 1896 gegründet worden war, seinen ersten Leichtathletikbewerb durch.
Albala war Vorläufer eines neuen sozialen Phänomens. Was heute als Sport allgegenwärtig ist, war bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts in Österreich praktisch unbekannt. Sport war elitär, eine Angelegenheit von Adeligen und Großbürgern. Pferderennen, Jagd und Rudern machten 90 Prozent der beginnenden Sportberichterstattung aus. Fußball, Tennis oder Leichtathletik breiteten sich erst ab 1850 langsam von England ausgehend über das übrige Europa aus. "Wir Continentale sind auf diesem Gebiet Schüler und Nachahmer", formulierte Victor Silberer, der als Gründer und Herausgeber der 1880 bis 1927 in Wien erschienenen "Allgemeinen Sportzeitung" ein zentraler Sport-Promotor war. Deutschland und andere westeuropäische Länder hatten den modernen Sport um gut ein Jahrzehnt früher aufgenommen als Österreich. Auch innerhalb des Habsburgerreichs war Österreich spät dran. So hatte Ungarn bei der Olympiapremiere 1896 in Athen drei Leichtathletik-Medaillen gewonnen. Der österreichische Teil der Monarchie hingegen fehlte in dieser olympischen Kerndisziplin gänzlich.
Mauricio Diego Albala war in dieser Situation im Jahr 1897 die historische Nummer eins. Er nahm an Bahn- und Straßenläufen, Gehbewerben und Geländeläufen teil, war auch im Rad- und Skisport aktiv. Im 10-km-Lauf ist eine Zeit von 37:14 Minuten für ihn überliefert. Einmal lief er von Wien nach Bratislava in 6:28:46 Stunden. Albala war ein sehr guter Läufer, selbstverständlich nicht der einzige, und er spielte als Sportler und Funktionär eine wichtige Rolle in einer Gründerzeit des Sports, als "Erfolge weder Ruhm noch Popularität einbrachten", so die "Wiener Sonn- und Montagszeitung". Die Leichtathletik betrieb er im Doppelpass mit dem Fußball. Nicht nur als Verteidiger u.a. beim "A.C. Victoria" hat er darin maßgebliche Schritte gesetzt. Albala stand ganz am Beginn dessen, was wir heute als Österreichischen Fußball-Bund kennen. Als 1894 einige in Wien arbeitende Engländer den Anstoß zur Gründung der ersten Fußballvereine gaben, wurde zwar bald eifrig gekickt, es fehlte aber eine übergeordnete Struktur für verbindliche Regeln oder die Erstellung von Auswahlmannschaften.
Am 28. März 1897 rief Albala im Namen des Rasenspielclubs "Training", dessen Schriftführer er damals war, in der "Allgemeinen Sport-Zeitung" die übrigen Wiener Fußballvereine zu einem Treffen auf. Ziel war die Schaffung einer "höheren Instanz" und die Gründung eines - bereits mit dieser Begrifflichkeit - "österreichischen Fussballbundes". Nach einer ersten Zusammenkunft von vier Clubs geriet das Vorhaben ins Stocken. Albala mahnte im November 1897 in einem weiteren öffentlichen Schreiben von der Vienna (First Vienna Football Club) als größtem Verein die angekündigte Aktivität in dieser Sache ein.
Am 11. Oktober 1898 wurde schließlich das "Comité zur Veranstaltung von Fussballwettspielen" gegründet, das von den meisten Wiener Vereinen anerkannt wurde. Albala war von Beginn an darin vertreten, auch in der 1900 nachfolgenden "Österreichischen Fussball-Union", als deren erster Präsident der Engländer Mark Nicholson, damals bester Spieler in Wien, großen Einfluss auf die Fußballentwicklung nahm.
Sport als Lebensinhalt#
Der Sport bestimmte Albalas Leben weit über die aktive Laufbahn hinaus - als Vorstandsmitglied und Vizepräsident im Leichtathletik-Verband, Leiter und Kampfrichter bei Leichtathletikmeetings sowie als Fußballschiedsrichter. Er war Mitglied (möglicherweise Gründer oder Mitbegründer) des prominent besetzten "Marathonkomitees", das ab 1924 jährlich einen Marathonlauf in Österreich veranstaltete. Davor wurden Rennen über die klassische olympische Langdistanz nur sporadisch durchgeführt, oft mit mehreren Jahren Abstand.
Im Sportjournalismus zählte Albala zu den frühen und prägenden Vertretern der Branche. Er schrieb für mehrere Wiener Zeitungen, u.a. für die "Wiener Allgemeine Zeitung" (1927 bis 1930 als Chefredakteur) und 25 Jahre lang für die "Wiener Sonn- und Montagszeitung", wo er Leiter der Sportrubrik war.
In seinen Artikeln behandelte er ein breites Themenspektrum - aktuelle Entwicklungen, Stärken und Schwächen im österreichischen Sport, Historisches. Im April 1920 wurde er bei der Gründungsversammlung des Österreichischen Sportjournalistenverbandes zu dessen erstem Präsidenten gewählt. Man nannte ihn den "Nestor der Sportjournalisten". Albala sei "ein hervorragender Fachmann auf allen Gebieten des Körpersports und des Rennwesens" gewesen, schrieb die "Wiener Zeitung" 1935 in einem Nachruf. Darüber hinaus "eine der ehrlichsten und geradesten Erscheinungen" im Sport wie im Journalismus, wie das "Sport-Tagblatt" notierte. Er war ein "Kritiker, der kaum jemals weh getan", und ein "Mensch, der keinen Feind besaß", so seine Kollegen in der "Wiener Sonn- und Montagszeitung".
Welche Rolle spielte das Jüdisch-Sein? Albala war ein Sepharde, also ein Nachkomme der ab 1492 aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden. Als jüdischer Funktionär außerhalb jüdischer Sportvereine und als jüdischer Sportjournalist war er in Wien kein Einzelfall. Als er im Mai 1919 ein Plädoyer zur Einführung von Toto-Wetten im Fußball schrieb, veranlasste dies den Medienmulti Victor Silberer zu einer Ablehnung, in der man antisemitische Klänge erkennen kann. Silberer schrieb in seiner "Allgemeinen Sport-Zeitung" in direkter Replik auf Albala, der Fußball sei "ein noch verhältnismäßig reiner Sport". Durch Sportwetten würden "ganz neue Elemente der Bevölkerung" auf die Plätze gezogen. Wichtig sei vielmehr, "der Jugend die Reinheit ihrer Sportspiele und ihres Charakters" zu wahren.
Der Sohn Hans#
Mauricio Diego Albala war mit der Katholikin Theresia, geborene Filip, verheiratet. Deren erster Sohn starb 1914 an einer Blinddarmentzündung. Nachdem Albala aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt war, kam 1919 der Sohn Hans zur Welt. Hans Albala wurde in der NS-Zeit die Ablegung der Matura verweigert. Von 1940 bis 1942 war er in den Konzentrationslagern Ebensee und Mitterweißenbach in Oberösterreich, danach vermutlich in Eisenerz.
In den 1960er Jahren schuf er als "Filmgraphiker" avantgardistische Kurz- und Werbefilme, unter anderem für "Humanic", die heute als herausragende Produktionen gelten. Die italienische Autorin Ada Zapperi Zucker beschreibt den 1976 verstorbenen Hans Albala als "Angehörigen einer verlorenen Generation", der Zeit seines Lebens am Trauma des Nazi-Terrors litt.
Sein Vater Mauricio Diego Albala hat bestimmt den Wiener Antisemitismus und den autoritären "Ständestaat" gekannt. Den Nationalsozialismus erlebte er nur in seinen Vorstufen, da er am 1. Juni 1935 bereits im 59. Lebensjahr an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben ist. "Einer der Pioniere der österreichischen Sportbewegung", wie ihn die "Wiener Sonn- und Montagszeitung" nannte, ist heute weder in der Leichtathletik, noch im Fußball, noch im Sportjournalismus ein Begriff. 120 Jahre nach seinen ersten großen Erfolgen hat sich seine Geschichte aber doch "ein zahlreiches sportliches Publikum" verdient.
Andreas Maier, geboren 1972, lebt in Wien. Medienverantwortlicher beim Vienna City Marathon, Chefredakteur Laufmagazin "RunUp", Autor des Buches "Franz Stampfl – Trainergenie und Weltbürger" (SportImPuls, 2013).