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Jenseits des Autopiloten #

Höre auf deinen Bauch, vertraue auf deine Impulse? Joachim Bauer setzt einen Kontrapunkt – und plädiert für die Kunst der Selbststeuerung. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 21. Mai 2015)

Von

Martin Tauss


Selbssteuerung Symbolbild
Selbssteuerung,Symbolbild
Foto: © iStockphoto

Wagt man einen näheren Blick in unser Innenleben, bleibt die Ernüchterung nicht aus. Vieles, was da vor sich geht, läuft automatisch: Gedanken lösen sich ab, Assoziationen drängen sich auf und Reaktionen bahnen sich den Weg. Dass das „Ich“ nicht Herr im eigenen Haus ist, hat schon Sigmund Freud behauptet, als er die Macht der unbewussten Impulse beschrieb. Heute wird diese Einsicht durch moderne Hirnforschung bestätigt: Der deutsche Neuro-Philosoph Thomas Metzinger etwa spricht vom alltäglichen Verlust der geistigen Autonomie, der immer wieder durch Tagtraum-artige Zustände und das unwillkürliche Wandern des Geistes bedingt wird. Metzinger geht davon aus, dass wir den Großteil unseres Wachbewusstseins nicht über geistige Selbstbestimmung im engeren Sinn verfügen.

Nun ist das Leben auf Autopilot nicht zwangsläufig unbequem, und es funktioniert meist auch ganz gut. Nur mit Freiheit und Selbstverwirklichung hat dies wenig gemein. Die gute Nachricht: Es gibt Wege zu einem wahrlich selbstbestimmten Leben. Die schlechte Nachricht: Die Bedingungen dafür erscheinen heute besonders schwierig. Wohl noch nie ist ein dermaßen dichtes Angebot von Reizen auf die Menschen eingeprasselt. Computer, Smartphones und soziale Netzwerke im Internet bieten zwar fantastische Möglichkeiten, haben aber auch, wie sich immer deutlicher zeigt, ein beachtliches Suchtpotenzial.

Impulsbefriedigung per Mausklick #

Im Zeitalter der neuen Medien wurden nicht nur die Sprachformeln, sondern auch die Reiz-Reaktionsketten verkürzt. Der Schriftverkehr, aber zum Beispiel auch das Einkaufen können per Mausklick abgewickelt werden: schreiben oder bestellen, und ab geht die Post. In der umfassenden Beschleunigung der Konsumgesellschaft bleibt weniger Raum für Innehalten, Impulskontrolle und – um mit Freud zu sprechen – Triebverzicht. „Geistige Selbstbestimmung und die Frage, wie sie gestärkt werden kann, wird eines der heißesten Themen der Zukunft sein“, behauptet daher Thomas Metzinger. Genau hier setzt der Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer an. In seinem fulminanten Plädoyer für „Selbststeuerung“ widmet er sich diesem Thema mit vielschichtiger Argumentation.

„Use it or loose it“#

Da ist zunächst die biologische Dimension: Gerade Selbstkontrolle und planvolles Handeln hätten den Menschen im Verlauf der Evolution zur erfolgreichsten Spezies gemacht. Im menschlichen Gehirn habe dies zur Entwicklung von Strukturen geführt, in denen genau diese Qualitäten heranreifen können – vorausgesetzt, sie werden durch Erziehung gefördert und später immer wieder neu zur Geltung gebracht. „Use it or loose it“, lautet ein neurobiologisches Grundprinzip, wonach Gehirnsysteme und ihre Funktionen verkümmern, wenn sie nicht trainiert werden. Erziehungspraktiken, die darauf verzichten, „Kinder und Jugendliche liebevoll, aber auch konsequent dazu anzuhalten“, ihre Potenziale der Selbststeuerung zu gebrauchen, versündigen sich daher an der biologischen Reifung des Gehirns, ist Bauer überzeugt. Das bedeutet vor allem lernen zu warten, zu teilen, und Distanz zu den einschießenden Impulsen herzustellen. In den ersten beiden Lebensjahren hingegen ist Selbstkontrolle aufgrund der unreifen Gehirnstrukturen noch gar nicht möglich. Ermahnungen an Säuglinge und Kleinkinder machen daher keinerlei Sinn – umso wichtiger ist die liebevolle Zuwendung, da sie für das Herausbilden des kindlichen Selbst wesentlich ist.

Wie der Freiburger Professor zeigt, zieht eine ausgeprägte Selbststeuerung jede Menge gesundheitlicher Effekte nach sich. Das führte in den 1960er-Jahren bereits der berühmte „Marshmallow-Test“ vor Augen. Bei dieser psychologischen Studie in den USA wurde die Fähigkeit von Kindern erfasst, einer verführerisch angerichteten Süßigkeit zu widerstehen, um nach einer harten Zeit des Wartens dann mit der doppelten Portion belohnt zu werden. Wer hier als Kind nicht in der Lage war, auf die sofortige Wunscherfüllung zu verzichten, zeigte als Erwachsener eine größere Anfälligkeit für psychische Störungen, neigte eher zu Übergewicht und hatte häufiger Probleme mit Suchtmitteln. Befunde dieser Art wurden inzwischen durch zahlreiche Studien erhärtet. Selbststeuerung ist essenziell, um etwa auf das Rauchen und übermäßigen Alkoholkonsum zu verzichten, Übergewicht zu meiden sowie sich immer wieder zu körperlicher Bewegung aufzuraffen, was wiederum einen ganzen Reigen an präventiven Schutzfaktoren aktiviert. Ein möglichst selbstbestimmtes Leben im Alter könnte sogar eine Form der Demenz-Prophylaxe sein, wie Bauer berichtet. Und vieles deutet darauf hin, dass die Stärkung der „Selbstkräfte“ auch die körpereigenen Abwehr- und Selbstheilungssysteme fördert, die für die Krankheitsbewältigung erforderlich sind.

Die philosophische Dimension dieser Überlegungen läuft auf die „Wiederentdeckung“ des freien Willens hinaus – nachdem ein solcher gerade von Seiten mancher Hirnforscher wie Gerhard Roth oder Wolf Singer massiv relativiert oder in Abrede gestellt worden ist. Folgt man Bauer, ist die Vorstellung eines freien Willens nicht nur wissenschaftlich zu legitimieren, sondern auch aus ethischer Sicht relevant. Denn Personen, denen man suggeriert, die Existenz eines freien Willens sei widerlegt, verhalten sich laut Studien deutlich asozialer und unmoralischer.

Genüssliche Selbstfürsorge#

Bauer wäre kein Bestseller-Autor, wenn er es nicht verstünde, komplexe Sachverhalte mit simplen Schemen zu veranschaulichen: In diesem Fall ist das die Gegenüberstellung des Stirnhirns – dort, wo fokussiert, abgewogen und geplant wird – und des stammesgeschichtlich weitaus älteren Mittelhirns – dort, wo das Belohnungssystem die Botenstoffe der Gier und des Glücks in Umlauf bringt. Es ist seinem Buch zugute zu halten, dass es hier ebenso auf die Bedeutung des Lust-fixierten Triebsystems verweist: Denn Selbststeuerung bedeutet „nicht genussfeindliche Selbstkontrolle, nicht menschenverachtend überdrehte Disziplin“, sondern vielmehr „ganzheitliche Selbstfürsorge“ als „Kunst, Impulse und deren Kontrolle miteinander zu verbinden“. Schließlich wäre das Leben ohne die Potenziale des guten alten „Reptiliengehirns“ gar ein wenig fad und freudlos. Und nicht umsonst gibt es gerade beim Erreichen langfristiger Ziele und hart erarbeiteter Erfolge eine gehörige Portion an innerer Belohnung.

Bild 'Buchcover'
Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens

Von Joachim Bauer.

Blessing Verlag 2015

238 Seiten, geb., €20,60

DIE FURCHE, Donnerstag, 21. Mai 2015


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