Ein Park wie Wien#
Sachertorte, Steffl, Donau, Prater. An den Stadtpark denkt niemand, wenn er an Wien denkt. Zu Unrecht. Ein Plädoyer für den ältesten Park der Stadt.#
Von der Wiener Zeitung (28. März 2021) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Matthias Winterer
Jede Stadt hat ihren Park. New York hat den Central Park. London den Hyde Park. München den Englischen Garten. Berlin das Tempelhofer Feld. Sie sind längst Teil der Identität ihrer Metropolen - gigantische Filmkulisse, royaler Superlativ, gemütliches Idyll, geschichtsträchtiges Flugfeld. Die berühmten Parkanlagen der Welt spiegeln das Klischee ihrer jeweiligen Stadt wider.
In Wien hält dafür der Prater her. Das Bild der morbiden Kaiserstadt mit ihren grantigen - aber gemütlichen - Bewohnern lässt sich zwischen Geisterbahn, Wäldchen und Lusthaus bis ins Unendliche weiter zeichnen. Mit der Realität hat das nichts zu tun. Die findet man auf einem anderen, nicht weniger namhaften, Fleck Wiese - dem Wiener Stadtpark.
Der Wiener Stadtpark ist der Prototyp eines Wiener Parks. Nicht, weil er der älteste Park der Stadt ist. Nicht, weil er den Titel Stadtpark trägt. Nicht, weil er im Herzen der Stadt liegt. Der Stadtpark ist schlicht und einfach ein exaktes Abbild von Wien. Nirgendwo sonst ist die Stadt so sehr sie selbst wie hier. Nirgendwo sonst so wienerisch. Nirgendwo sonst so urban.
Urbanität entsteht durch Menschen. Vielen Menschen. Eine Stadt wird erst durch ihre Bewohner zur Stadt. Sie ist ein Konglomerat unterschiedlichster Schichten, Kulturen, Milieus, Altersgruppen. Treffen viele Angehörige dieser Gruppen aufeinander, tritt Belebung ein. Stadtplaner sprechen von einer guten sozialen Durchmischung.
Wie in Entenhausen#
Das Idealbild eines gut durchmischten Parks ist der Stadtpark von Entenhausen. Tick, Trick und Track lümmeln auf einer Wiese herum. Ihr notorisch verschuldeter Onkel verdingt sich als Papier-Aufsammler. Onkel Dagobert schmökert im "Milliardärs-Blatt". Gustav Gans findet eine Münze. Daisy sucht Donald. Die Panzerknacker planen ihren nächsten Coup. Und das Denkmal von Stadtgründer Emil Erpel steht stoisch über Allem.
Der Stadtpark von Entenhausen ist dem Wiener sehr ähnlich. Hier trifft sich die ganze Stadt. Vom Wohnungslosen beim Würstelstand zum Bonzen im Steirereck. Und die komplette Bandbreite der Wiener Gesellschaft dazwischen - Kinder, Jugendliche, Pensionisten, Skater, Familien, Junkies und ihre Dealer, Läufer, Yogis, Entenbeobachter, Flaneure, Passanten, Frisbee-Spieler, Käfigkicker, Touristen. Der betuchte Uniprofessor geht hier genauso spazieren, wie der schnorrende Punk. Der Stadtpark bedient keine spezielle Klientel, wie etwa der Augarten, dem Mekka der Wiener Bobo-Szene, wo an schönen Tagen an jedem zweiten Baum ein Rennrad lehnt. Der Stadtpark bedient alle. Er ist ein Querschnitt Wiens.
Das hat viele Gründe. Einer davon ist die geografische Lage des Parks. Sie befördert Durchmischung. Die rund 96.000 Quadratmeter große Grünfläche liegt im dicht bebauten Kern der Stadt. Sie erstreckt sich über die Bezirke Innere Stadt und Landstraße. So wie die Donau die Stadt teilt, teilt die Wien den Stadtpark an der Bezirksgrenze in zwei Hälften. Im Nordwesten schmiegt sich der Ring an den Park, im Südosten der Heumarkt.
Ein Park für alle#
In der unmittelbaren Nachbarschaft gibt es sonst kaum Grün. Anrainer nützen den Stadtpark im Alltag. Ein Feierabendbier auf der Wiese. Schnell mit dem Hund Gassi gehen. Vor dem Frühstück eine Runde laufen. Angestellte aus dem Büro-Viertel Wien Mitte verbringen ihre Mittagspause hier. Obdachlose kommen vom nahegelegenen U- und S-Bahnhof Landstraße. Touristen von den angrenzenden Nobelhotels Ritz-Carlton, Marriott, Intercontinental, Hilton. Passanten durchqueren den Park. Der Stadtpark ist durchlässig. Kein Zaun begrenzt ihn. Er ist eine schnelle Route in den 1. Bezirk.
Am Nachmittag kommen die Jugendlichen. An sonnigen Tagen verteilen sich hunderte Grüppchen über die Wiesen des Parks. Von Jahr zu Jahr werden sie mehr. Der Stadtpark ist in Mode. Wie viele innerstädtische Parkanlagen erlebt auch er ein Revival - vor allem bei jungen Leuten. Bis tief in die 90er-Jahre warnten Eltern ihre Kinder vor dunklen Parkanlagen, in denen vermeintlich Süchtige, Messerstecher, Verbrecher hausen. Sie wurden großräumig umgangen. Auch der Stadtpark hatte ein Imageproblem. Immer wieder schaffte er es in den Boulevard. Drogendelikte hier. Messerstechereien dort.
Heute ist das anders. Parks sind zum Treffpunkt avanciert. "Junge Menschen gehen wieder mehr in den Park", sagt der Landschaftsarchitekt Thomas Knoll. "Vor zehn, zwanzig Jahren trafen sie sich Indoor, im Kaffeehaus, im Jugendzentrum, im Sportverein. Niemand kam auf die Idee, sich in seiner Freizeit in den Park zu setzen." Im Stadtpark war das sogar verboten. Leute, die auf der Wiese saßen, wurden von der Polizei vertrieben. Erkämpfte die Burggarten-Bewegung bereits Ende der 70er-Jahre das Recht die Wiese zu betreten, dauerte es im spießigen Stadtpark fast 20 Jahre länger.
Diese Zeiten sind längst vorbei. Nun ist Outdoor en vogue. Parks verbinden die Vorteile der Stadt mit den Vorteilen der Natur. Sie sind gut erreichbar. Es ist lauschig unter den Bäumen. Es gibt keinen Konsumzwang. Der nächste Supermarkt ist trotzdem nicht weit. "Wir können hier jederzeit was zum Trinken holen", sagt Leonie und nimmt einen Schluck Dosenbier. Die 22-jährige Studentin hockt mit ihren Freunden im Gras. "Außerdem ist die Anbindung gut", sagt Sitznachbarin Coco. Der Stadtpark hat eine eigene U-Bahn-Station. Ringstraßenbahn und S-Bahn sind nur einen Steinwurf entfernt. "Manche kommen mit der Bim, manche mit der U-Bahn. Früher waren wir immer auf der Donauinsel. Aber wenn es kalt wird, sind wir vom Stadtpark alle schneller daheim."
Die große Popularität des Stadtparks bei Jugendlichen mag aber auch ein Stück weit Zufall sein. Vor den Klimaprotesten der Fridays-For-Future-Bewegung ist er seit Jahren Sammelpunkt der Demonstranten. Viele lernten ihn kennen und schätzen. Auch das Augmented-Reality-Spiel Pokémon Go lockte Schüler und Jugendliche in den Stadtpark. Zwischen Zierstrauch und Steinplastik jagten sie Pikachu und Co. "Oft entdeckt erst eine spezifische Gruppe die Vorzüge gewisser öffentlicher Plätze", sagt Knoll. "Andere ziehen dann nach."
Prunk und Laster#
Neben seiner hervorragenden Positionierung auf dem Wiener Stadtplan ist es aber auch der Park selbst, der Menschen anzieht. Die Ausstattung des Stadtparks ist breit gefächert. Sie deckt ein großes Spektrum an Bedürfnissen und Geschmäckern ab. Der Stadtpark ist eine historische Anlage aus der Gründerzeit, der Hochblüte des Historismus. Am 21. August 1862 wurde er auf dem Areal des ehemaligen Wasserglacis - einer seit Kaiser Joseph II. beliebten Promenade - neben der neu errichteten Ringstraße eröffnet. Nach Plänen des Landschaftsmalers Josef Selleny und des Stadtgärtners Rudolf Siebeck wurde er im englischen Landschaftsstil angelegt. Und so sieht er bis heute aus. Ausladende Wiesen, aufwendig arrangierte Blumenbeete, kitschige Flüsschen, im geschwungenen Teich dümpeln Stockenten, Höckerschwäne, Lachmöwen. Der Baumbestand ist beeindruckend. Monumentale Stämme ragen in den Himmel. Insgesamt stehen 1.089 Bäume hier. Unter ihnen Exoten wie die Kaukasische Flügelnuss oder ein 80 Jahre alter Japanischer Schnurbaum.
Auch die Architektur ist prunkvoll. Kinder glauben, hinter den Renaissance-Fenstern des Kursaloon Hübners versteckt sich eine Prinzessin. Auf das pittoreske Stadtgartenamt rankt Wilder Wein. Die U-Bahn-Station Stadtpark von Otto Wagner ist noch aus der Zeit, als durch Wien die dampfbetriebene Stadtbahn rauschte. Die üppige Verbauung des Wienflusses mit Flussportal, Pavillions, Ufertreppen könnte nicht majestätischer sein. Selbst die Laternen entlang der Flusspromenade erinnern an die Kaiserzeit. Die vergoldete Bronzestatue von Johann Strauss (Sohn) ist wohl eines der am meisten fotografierten Motive der Stadt. In keinem anderen Park Wiens stehen mehr Denkmäler, Skulpturen, Brunnen herum - von den Komponisten Franz Schubert, Anton Bruckner, Robert Stolz über den Maler Friedrich von Amerling zum Bürgermeister Andreas Zelinka. Alles ist pompös. Auch die modernen Bauten wirken erlesen. Der Kindergarten ist ein riesiger türkiser Fisch, lichtdurchflutet und offen. Das Nobelrestaurant Steirereck ein futuristisches Ufo mit riesigen Glasfronten.
Gleichzeitig ist der Park erstaunlich verlottert, vor allem in seinem südöstlichen Teil im 3. Bezirk. Er ist wie die Stadt selbst. Ein bisschen imperial. Ein bisschen abgefuckt. Die Steinkugeln am Brückenkopf der Fußgängerbrücke sind mit Smilies besprüht. Bierdosen und Fastfood-Reste liegen neben den Mistkübeln. Auf einer Parkbank neben dem Stadtgartenamt wird offensichtlich gedealt.
Es ist diese Melange aus pompöser Geste und großstädtischer Lasterhaftigkeit, die den Stadtpark ausmacht. Sie nimmt die Ehrfurcht vor dem ganzen Schnick-Schnack und monarchischem Brimborium. Sie verleiht ihm seine wohl größte Stärke - seine Funktionalität.
Berühren erwünscht#
Denn der Stadtpark ist kein Museum. Keine konserviertes Stück Geschichte. Er ist nicht nur zum Anschauen da. Berühren erwünscht. Kinder besteigen hundertjährige Bäume. Auf den Wiesen wird getrunken, gelesen, gesportelt. Seit dem Ausbruch der Pandemie nutzen sie Klassen für den Schulsport. Unter einem Blasenbaum stemmen Menschen Autoreifen. Eine Gruppe Pensionistinnen turnt im Gras. Der Asphalt der Wege ist voller bunter Striche aus Straßenkreide. Im Käfig wird Basketball gespielt und natürlich gekickt. Zehn Jugendliche auf dem Platz, zehn kommentierend daneben. "Wir kommen jeden Mittwoch zum Spielen her", sagt Pavel. "Wir sind eine bunte Mischung aus Österreichern und Migranten", sagt er. "Und jeden Mittwoch werden wir mehr." Woher sie sich kennen? "Na, vom Stadtpark."
Auch der Spielplatz ist gesteckt voll. Nach dem Tag im Stadtparkkindergarten machen viele Familien einen Abstecher auf einen der beiden Spielplätze. Bei der Korbschaukel stellen sich Kleinkinder an. Eltern trinken Kaffee vom mobilen Barista. Oder irren über die Fläche aus Rindenmulch - mit einem Auge ihr Kind suchend, mit dem andern aufs Handy starrend. Die Kinder nehmen auch den angrenzenden Skatepark ein. Sie klettern über Rampen, wischen mit ihren Hosenböden die Halfpipe auf. Genervte Skater hocken auf ihren Decks, rauchen, warten auf ihre Chance. Ein Straßenmusiker spielt auf der Klarinette das Star-Wars-Thema. In den Edelstahlfronten des Steirerecks spiegelt sich Helene. Die 75-jährige geht seit ihrer Pensionierung vor zwölf Jahren täglich im Stadtpark spazieren. Im Steirereck war sie noch nie. "Da dinieren doch nur Minister", sagt sie und lacht. "Manchmal trinke ich mit meinem Mann einen Spritzer am Würstelstand."
Entenhausen könnte vor Neid erblassen. Im Stadtpark ist was los. Das war nicht immer so. Analog zur Stadt durschschritt er verschiedenste Metamorphosen. Vom malerischen Laufsteg der Bourgoisie in seinen Anfangsjahren, über den Volksgarten für alle, zum verrufenen Drogendschungel um die Jahrtausendwende.
Und jetzt verändert ihn die Pandemie. In diversen Lockdowns ist er zum Rettungsanker geworden. Zum letzten Freiraum einer verriegelten Stadt. Hier können die Bürger weiter Normalität spielen. Der Stadtpark steht allen offen. Bald vielleicht sogar den Wirten. Die Stadtregierung will ihnen die öffentliche Fläche als Schanigarten anbieten. Kritik kommt von der Opposition. Und von vielen im Park. Hat ihnen das Virus Theater, Beisl, Urlaub genommen. Der Stadtpark muss bleiben wie er ist. Ein Abbild von Wien.