Tibet – Durch Disputation zur religiösen Weisheit#
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Die Bilder wurden vom Verfasser in den Jahren 1991, 1993, 1995, 1999 und 2000 in den Klöstern Sera, Drepung, Ganden und Tashilhunpo aufgenommen und sind Teil des Archives „Bilderflut Jontes“
Wer ein Kloster des tibetischen Gelugpa-Ordens besucht, der im Westen wegen seiner rituellen Kopfbedeckungen auch Gelbmützen-Orden genannt wird, kann hin und wieder beobachten, wie Mönche in kleinen Gruppen in einem Hof, auf einer Wiese oder unter schattenspendenden Bäumen ganz aufgeregt, aber nie feindselig miteinander unter ausholenden Körperbewegungen debattieren. Der Besucher wird dabei Zeuge eines buddhistischen religiösen Disputs, dessen Traditionen bis ins Mittelalter zurückreichen.
Der tibetische Buddhismus ist eine besondere Spielart der Lehre des historischen Buddhas Shakyamuni, der den Menschen einen eigenen Weg der inneren Befreiung von Leid, Angst und seelischer Bedrohung wies. Seine Predigten wurden erst nach seinem Tod von Jüngern aus dem Gedächtnis niedergeschrieben und so von einer mündlichen in eine schriftliche Form gebracht. Nun entstanden eine reiche Literatur der Kommentare des Buddhawortes und ein komplexes System aus Theologie und Philosophie. Und im Laufe der Zeit entwickelten sich besondere Formen des Strebens, nur durch mönchisch organisiertes Leben und Trachten nach Vollkommenheit in den Zustand des Nirvana, des absoluten Erlöschens ohne schmerzhafte und langwierige Wiedergeburten zu gelangen. So schieden sich der Hinayana- , das „kleine Fahrzeug“ der Mönche von dem allen zugänglichen Wegen des Mahayana-Buddhismus, des „großen Fahrzeugs“, welcher diesen Zugang auch dem Laien schafft. Die Klöster wurden besonders in Tibet zu Brennpunkten der Gelehrsamkeit, in deren Universitäten und Fakultäten berühmte Lamas die Lehre weiterentwickelten.
Der tibetische Buddhismus entstand in seiner heutigen Form durch die Verschmelzung der reinen Buddhalehre mit animistisch-schamanistischen Vorstellungen und Praktiken, die vor mehr als tausend Jahren erfolgte und sich dann in verschiedene Schulen oder Orden aufspaltete, von denen es heute vier gibt: Nyingma, Gelug, Kagyü und Sakya.
Besonders die reformatorisch gesinnte Gelugpa-Richtung, deren spirituelles Oberhaupt der jeweilige Dalai Lama ist, legt auf gelehrte Ausbildung und einen lang dauernden, elitär selektierenden Weg allergrößten Wert. Zentren waren dabei die drei Staatsklöster im Umkreis der Hauptstadt Lhasa Sera, Drepung und Ganden. War es früher ein Potential von tausenden Mönchen, aus denen die Eliten kamen, so können heute noch immer hunderte unter den Augen der chinesischen Autoritäten auf den gelehrten spirituellen Weg gebracht werden, dessen Ziel die Ausbildung zur höchsten Würde, der eines Geshe, ist. Diese dauert oft mehr als 20 Jahre lang und besteht aus stetem Lernen, geistigen Übungen und Schlussprüfungen, die meist am tibetischen Neujahrsfest stattfinden.
Zur Ausbildung zählt auch die Kunst des kollektiven Debattierens über ein gestelltes Thema, das meist den Aussagen des Buddhas in seinen Predigten entnommen wird. Diese Form wurde zuerst von den Sakyapa gepflogen, aber am Beginn des 15. Jahrhunderts auch von den Gelugpa übernommen und zu standardisierter Größe gebracht.
Die Mönche versammeln sich also und als erstes rufen sie den Bodhisattva der Weisheit Manjusri an. Dann wird ein Text gegeben, über welchen ein Disput erfolgt, der nach ganz bestimmten Regeln abläuft. Es bilden sich Dreiergruppen, die aus Herausforderer, Verteidiger und Schiedsrichter bestehen. Der Verteidiger sitzt am Boden, der Herausforderer nähert sich ihm mit bestimmten Schritten, bleibt vor ihm stehen und versucht nun Widersprüche in der Verteidigung der gestellten Frage aufzuzeigen. Dazu gibt es ein Repertoire von sehr dynamischen Gesten, Sprüngen, Aufstampfen. Eine der Handbewegungen deutet z. B. an, dass damit der Knoten der Unwissenheit zerschnitten wird, eine andere, die den Weg von der Tiefe zur Höhe der Wahrheit symbolisiert. Argumente werden auch durch Händeklatschen verstärkt oder Angriffe damit abgewehrt. Das Ganze sieht sehr ekstatisch und kämpferisch aus, Feindschaften entstehen aber nicht daraus und es kann durchaus auch lustig zugehen und vieles Lachen zeigt, dass alle auch ihre Freude und sogar Spaß daran haben.