Seite - 6 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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englischen Autors das amüsante Detail, daß er seinen Helden nach Rio de
Janeiro gehen läßt, um dort spanisch zu erlernen. Aber er ist nur einer von
Unzähligen, die nicht wissen, daß man in Brasilien portugiesisch spricht.
Jedoch es steht mir, wie gesagt, nicht zu, anderen hochmütige Vorhaltungen
wegen ihrer geringen Kenntnis zu machen; ich habe selbst, als ich das
erstemal von Europa abfuhr, nichts oder wenigstens nichts Zuverlässiges von
Brasilien gewußt.
Dann kam die Landung in Rio, einer der mächtigsten Eindrücke, den ich
zeitlebens empfangen. Ich war fasziniert und gleichzeitig erschüttert. Denn
hier trat mir nicht nur eine der herrlichsten Landschaften der Erde entgegen,
diese einzigartige Kombination von Meer und Gebirge, Stadt und tropischer
Natur, sondern auch eine ganz neue Art der Zivilisation. Da war ganz gegen
meine Erwartung mit Ordnung und Sauberkeit in Architektur und städtischer
Anlage ein durchaus persönliches Bild, da war Kühnheit und Großartigkeit in
allen neuen Dingen und gleichzeitig eine alte, durch die Distanz noch
besonders glücklich bewahrte geistige Kultur. Da war Farbe und Bewegung,
das erregte Auge wurde nicht müde zu schauen, und wohin es blickte, war es
beglückt. Ein Rausch von Schönheit und Glück überkam mich, der die Sinne
erregte, die Nerven spannte, das Herz erweiterte, den Geist beschäftigte, und
soviel ich sah, es war nie genug. In den letzten Tagen fuhr ich ins Innere oder
vielmehr – ich glaubte ins Innere zu fahren. Ich fuhr zwölf Stunden, vierzehn
Stunden weit nach São Paulo, nach Campinas, in der Meinung, dem Herzen
dieses Landes damit näherzukommen. Aber als ich zurückgekehrt dann auf
die Karte blickte, entdeckte ich, daß ich mit diesen zwölf oder vierzehn
Stunden Eisenbahnfahrt nur knapp unter die Haut gekommen; zum erstenmal
begann ich die unfaßbare Größe dieses Landes zu ahnen, das man eigentlich
kaum mehr ein Land nennen sollte, sondern eher einen Erdteil, eine Welt mit
Raum für dreihundert, vierhundert, fünfhundert Millionen und einem
unermeßlichen, noch kaum zum tausendsten Teile ausgenützten Reichtum
unter dieser üppigen und unberührten Erde. Ein Land in rapider und trotz aller
werkenden, bauenden, schaffenden, organisierenden Tätigkeit erst
beginnender Entwicklung. Ein Land, dessen Wichtigkeit für die kommenden
Generationen auch mit den kühnsten Kombinationen nicht auszudenken ist.
Und mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit schmolz der europäische
Hochmut dahin, den ich höchst überflüssigerweise als Gepäck auf diese Reise
mitgenommen. Ich wußte, ich hatte einen Blick in die Zukunft unserer Welt
getan.
Als dann das Schiff abfuhr – es war eine Sternennacht, und doch glänzte
diese einzige Stadt mit ihren Perlenschnüren elektrischen Lichts schöner und
geheimnisvoller als die Funken des Firmaments – war ich gewiß, daß ich
diese Stadt, dieses Land nicht zum letztenmal gesehen, und völlig im klaren
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197