Seite - 7 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Bild der Seite - 7 -
Text der Seite - 7 -
auch, daß ich eigentlich nichts gesehen oder keinesfalls genug. Ich nahm mir
vor, gleich im nächsten Jahr wiederzukommen, besser vorbereitet und um
länger zu bleiben, um noch einmal und noch stärker dieses Gefühl zu
empfinden, im Werdenden, Kommenden, Zukünftigen zu leben und die
Sicherheit des Friedens, die gute gastliche Atmosphäre nun noch bewußter zu
genießen. Aber ich konnte mein Versprechen nicht halten. Im nächsten Jahr
war der Krieg in Spanien, und man sagte sich: warte ab bis zu einer ruhigeren
Zeit. 1938 fiel Österreich, und wieder harrte man auf einen ruhigeren
Augenblick. Dann, 1939, war es die Tschechoslowakei und dann der Krieg in
Polen und dann der Krieg aller gegen alle in unserem selbstmörderischen
Europa. Immer leidenschaftlicher wurde mein Wunsch, mich aus einer Welt,
die sich zerstört, für einige Zeit in eine zu retten, die friedlich und
schöpferisch aufbaut; endlich kam ich wieder in dieses Land, besser und
gründlicher vorbereitet als zuvor, um zu versuchen, davon ein kleines Bild zu
geben.
Ich weiß, daß dieses Bild nicht vollständig ist und nicht vollständig sein
kann. Es ist unmöglich, Brasilien, eine so weiträumige Welt, vollkommen zu
kennen. Ich habe ungefähr ein halbes Jahr in diesem Lande verbracht und
weiß gerade jetzt erst, wieviel trotz allen Lerneifers und Reisens mir zu einem
wirklich vollständigen Überblick dieses gewaltigen Reiches noch fehlt, und
daß ein ganzes Leben kaum ausreichte, um sagen zu dürfen: ich kenne
Brasilien. Ich habe vor allem eine Reihe Provinzen überhaupt nicht gesehen,
deren jede so groß oder größer ist als Frankreich oder Deutschland, ich habe
die selbst von wissenschaftlichen Expeditionen nicht ganz durchdrungenen
Gebiete von Mato Grosso, Goiaz und die Wildnisse des Amazonenstroms
nicht durchstreift. Ich bin also nicht vertraut mit dem primitiven Leben dieser
in riesigen Räumen verstreuten Siedlungen und kann nicht die Existenz all
dieser von der Kultur kaum berührten Berufsklassen anschaulich machen:
nicht das Leben der barqueiros, die auf den Strömen schiffen, nicht das
der caboclos im Amazonengebiet, nicht das der
Diamantensucher, der garimpeiros, nicht das der Viehzüchter,
der vaqueiros und gaúchos, nicht das der Gummiplantagenarbeiter im
Urwald, der seringueiros oder das der sertanejos von Minas Gerais. Ich habe
die deutschen Kolonien von Santa Catarina nicht besucht, wo in den alten
Häusern noch das Bild Kaiser Wilhelms und in den neueren das Bild Adolf
Hitlers hängen soll, nicht die japanischen Kolonien im Innern von São Paulo
und kann niemandem verläßlich sagen, ob wirklich noch manche der
indianischen Stämme in den undurchdringlichen Wäldern kannibalisch sind.
Auch von den landschaftlichen Sehenswürdigkeiten kenne ich manche der
wesentlichen nur von Bildern und Büchern. Ich bin nicht zwanzig Tage lang
die grüne, in ihrer Monotonie großartige Wildnis des Amazonas
7
zurück zum
Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197