Seite - 9 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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wie Brasilien. In einer Weise, die nach meiner persönlichen Meinung nicht
nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die Bewunderung der Welt für sich
fordert.
Denn seiner ethnologischen Struktur gemäß müßte, sofern es den
europäischen Nationalitäten- und Rassenwahn übernommen hätte, Brasilien
das zerspaltenste, das unfriedlichste und unruhigste Land der Welt sein. Noch
sind mit freiem Blick schon auf Straße und Markt die verschiedenen Rassen
deutlich erkennbar, aus denen die Bevölkerung geformt ist. Da sind die
Abkömmlinge der Portugiesen, die das Land erobert und kolonisiert haben, da
ist die indianische Urbevölkerung, die das Hinterland seit unvordenklichen
Zeiten bewohnt, da sind die Millionen Neger, die man in der Sklavenzeit aus
Afrika herüberholte, und seitdem die Millionen Italiener, Deutsche und sogar
Japaner, die als Kolonisten herüberkamen. Nach europäischer Einstellung
wäre zu erwarten, daß jede dieser Gruppen sich feindlich gegen die andere
stellte, die früher Gekommenen gegen die später Gekommenen, Weiße gegen
Schwarze, Amerikaner gegen Europäer, Braune gegen Gelbe, daß Mehrheiten
und Minderheiten in ständigem Kampf um ihre Rechte und Vorrechte
einander befeindeten. Zum größten Erstaunen wird man nun gewahr, daß alle
diese schon durch die Farbe sichtbar voneinander abgezeichneten Rassen in
vollster Eintracht miteinander leben und trotz ihrer individuellen Herkunft
einzig in der Ambition wetteifern, die einstigen Sonderheiten abzutun, um
möglichst rasch und möglichst vollkommen Brasilianer, eine neue und
einheitliche Nation zu werden. Brasilien hat – und die Bedeutung dieses
großartigen Experiments scheint mir vorbildlich – das Rassenproblem, das
unsere europäische Welt verstört, auf die einfachste Weise ad absurdum
geführt: indem es seine angebliche Gültigkeit einfach ignorierte. Während in
unserer alten Welt mehr als je der Irrwitz vorherrscht, Menschen »rassisch
rein« aufzüchten zu wollen wie Rennpferde oder Hunde, beruht die
brasilianische Nation seit Jahrhunderten einzig auf dem Prinzip der freien und
ungehemmten Durchmischung, der völligen Gleichstellung von Schwarz und
Weiß und Braun und Gelb. Was in anderen Ländern nur auf Papier und
Pergament theoretisch festgelegt ist, die absolute staatsbürgerliche Gleichheit
im öffentlichen wie im privaten Leben, wirkt sich hier sichtbar im realen
Raume aus, in der Schule, in den Ämtern, in den Kirchen, in den Berufen und
beim Militär, an den Universitäten, an den Lehrkanzeln: es ist rührend, schon
die Kinder, die alle Schattierungen der menschlichen Hautfarbe abwandeln –
Schokolade, Milch und Kaffee – Arm in Arm von der Schule kommen zu
sehen, und dieses körperliche wie seelische Verbundensein reicht empor bis in
die höchsten Stufen, in die Akademien und Staatsämter. Es gibt keine
Farbgrenzen, keine Abgrenzungen, keine hochmütigen Schichtungen, und
nichts ist für die Selbstverständlichkeit dieses Nebeneinanders
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197