Seite - 12 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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und wie groß der Anteil des einzelnen daran ist, wie viele Autos,
Badezimmer, Radios und Versicherungsgebühren pro Kopf der Bevölkerung
entfallen. Nach diesen Tabellen wären die hochkultiviertesten und
hochzivilisiertesten Völker jene, die den stärksten Impetus der Produktion
haben, das Maximum an Verbrauch und die größte Summe an
Individualvermögen. Aber diesen Tabellen fehlt ein wichtiges Element, die
Einrechnung der humanen Gesinnung, die nach unserer Meinung den
wesentlichsten Maßstab von Kultur und Zivilisation darstellt. Wir haben
gesehen, daß die höchste Organisation Völker nicht verhindert hat, diese
Organisation einzig im Sinne der Bestialität statt in jenem der Humanität
einzusetzen, und daß unsere europäische Zivilisation im Lauf eines
Vierteljahrhunderts zum zweiten Male sich selber preisgegeben hat. So sind
wir nicht mehr gewillt, eine Rangordnung anzuerkennen im Sinne der
industriellen, der finanziellen, der militärischen Schlagkraft eines Volkes,
sondern das Maß der Vorbildlichkeit eines Landes anzusetzen an seiner
friedlichen Gesinnung und seiner humanen Haltung.
In diesem – meiner Meinung nach dem wichtigsten – Sinne scheint mir
Brasilien eines der vorbildlichsten und darum liebenswertesten Länder
unserer Welt. Es ist ein Land, das den Krieg haßt und noch mehr: das ihn
soviel wie gar nicht kennt. Seit mehr als einem Jahrhundert hat mit Ausnahme
jener Paraguay-Episode, die von einem tollgewordenen Diktator sinnlos
provoziert wurde, Brasilien alle Grenzkonflikte mit seinen Nachbarn durch
gütliche Vereinbarungen und Appell an internationale Schiedsgerichte
ausgetragen. Nicht Generäle sind sein Stolz und seine Helden, sondern die
Staatsmänner wie Rio Branco, die durch Vernunft und Konzilianz Kriege zu
verhindern wußten. Ganz in sich geschlossen, die Sprachgrenze eins mit der
Landesgrenze, hat es keinerlei Eroberungswillen, keine imperialistischen
Tendenzen. Kein Nachbar kann von ihm etwas fordern, und es fordert nichts
von seinen Nachbarn. Nie ist der Friede der Welt durch seine Politik bedroht
gewesen, und selbst in einer unberechenbaren Zeit wie der unseren kann man
sich nicht ausdenken, daß dieses Grundprinzip seines nationalen Gedankens,
dieser Wille zur Verständigung und Verträglichkeit sich jemals verändern
könnte. Denn dieser Wille zur Konzilianz, diese humane Haltung ist nicht
zufällige Gesinnung einzelner Herrscher und Führer gewesen; er ist hier das
natürliche Produkt eines Volkscharakters, der eingeborenen Toleranz des
Brasilianers, die sich im Laufe seiner Geschichte immer wieder bewährt hat.
Als einzige der iberischen Nationen hat Brasilien keine blutigen
Religionsverfolgungen gekannt, nie haben hier die Scheiterhaufen der
Inquisition geflammt, in keinem Lande sind die Sklaven verhältnismäßig
humaner behandelt worden. Selbst seine inneren Umstürze und
Regierungsänderungen haben sich beinahe unblutig vollzogen. Der König und
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197