Seite - 26 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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nichts als ein ebenso festlich unschuldiges Vergnügen wie Trinken, Tanzen
oder mit Frauen Schlafen.
Dieser ungeheure Tiefstand der Lebenshaltung scheint zunächst eine
unüberwindliche Hemmung für das Werk der Jesuiten, in Wirklichkeit aber
erleichtert er ihnen ihre Aufgabe. Denn da diese nackten Wesen überhaupt
keine religiösen oder sittlichen Vorstellungen besitzen, ist es viel leichter,
ihnen welche beizubringen als Völkern, bei denen ein eigener Kult schon
vorwaltet und wo Zauberer, Priester und Schamanen dem Missionar mit
Erbitterung entgegentreten. Die brasilianische Urbevölkerung dagegen ist ein
»unbeschriebenes Blatt«, ein papel em branco, wie Nóbrega sagt, das weich
und gefügig die neue Vorschrift aufnimmt und jeder Belehrung vollen Raum
läßt. Überall empfangen die Eingeborenen die brancos, die Priester ohne
jedes Mißtrauen: Onde quer que vamos, somos recebidos com grande boa
vontade. Sie lassen sich ohne Zögern taufen und folgen – warum auch nicht?
– den Priestern, den »guten Weißen«, die sie vor den andern, den »wilden
Weißen« schützen, willig und dankbar in die Kirche. Selbstverständlich
wissen die Jesuiten als gelernte und immer wache Realisten, daß diese träge,
gedankenlose Zustimmung, das Niederknien und Kreuzeschlagen von
Kannibalen noch lange kein wirkliches Christentum ist – selbst bei dem
berühmten Verteidiger ihrer Mission in São Paulo bei Tibiriçá erleben sie
gelegentliche Rückfälle in den Kannibalismus – und sie vergeuden nicht ihre
Zeit mit prahlerischen Statistiken über die schon gewonnenen Seelen. Sie
wissen, daß ihre eigentliche Aufgabe in der Zukunft liegt. Zunächst einmal
nur die nomadische Masse an stabilen Stätten anwurzeln lassen, damit man
ihre Kinder erfassen und belehren kann. Das gegenwärtige kannibalische
Geschlecht ist nicht mehr ernstlich zu kultivieren. Aber ihre Kinder und
Kindeskinder, also die kommenden Generationen, im Sinne der Kultur
auszubilden, kann leicht gelingen. Darum ist es den Jesuiten das Wichtigste,
Schulen einzurichten, in denen sie, weit vorausblickend, mit jener Idee
systematischer Vermischung beginnen, die Brasilien zur Einheit geformt und
allein als Einheit erhalten hat. Bewußt vereinen sie Kinder aus den
Strohhütten der Wilden mit den schon zahlreichen Mischlingen und fordern
dringend weiße Kinder aus Lissabon, mögen es auch nur die verwahrlosten,
die verlassenen Kinder sein, die in den Straßen Lissabons aufgelesen werden.
Jedes neue Element, das die Mischung befördert, ist ihnen willkommen, sogar
die moços perdidos, ladrões e maus que aqui chamam de patifes. Denn es gilt
für sie, da die Eingeborenen gleichfarbigen oder mischfarbigen Brüdern bei
dem religiösen Unterricht mehr Vertrauen schenken als den Fremden, den
Weißen, sich die Lehrer des Volkes aus dem eigenen Blut des Volkes zu
schaffen. Im Gegensatz zu den andern denken sie ausschließlich in und für
kommende Generationen; strenge und klare Realisten und Rechner, haben sie
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197