Seite - 27 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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als einzige eine wirkliche Vision des kommenden, des werdenden Brasiliens,
und noch ehe irgendein Geograph die räumliche Größe dieses Landes ahnt,
stellen sie ihre Arbeit auf den richtigen Maßstab ein. Es ist ein Feldzugsplan
für die Zukunft, den sie entwerfen, und sein letztes Ziel bleibt unverrückbar
durch die Jahrhunderte: Formung dieses neuen Landes im Geist einer
einzigen Religion, Sprache und Idee. Daß dieses Ziel erreicht wurde, bleibt
Brasiliens dauernde Dankesschuld an diese ersten Schöpfer ihrer Staatsidee.
Der eigentliche Widerstand, auf den die Jesuiten mit ihrem großzügigen
Kolonisationsplan stoßen, kommt nicht, wie man zuerst erwarten konnte, von
den Eingeborenen, den Wilden, den Kannibalen; er kommt von den
Europäern, den Christen, den Kolonisten. Bisher war für diese entlaufenen
Soldaten, desertierten Matrosen, für die Desgregados Brasilien ein exotisches
Paradies gewesen, ein Land ohne Gesetze und Einschränkungen und
Verpflichtungen, in dem jeder tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Ohne
von Justiz oder Autorität ernstlich behelligt zu werden, konnten sie den
wüstesten Trieben freien Lauf gewähren; was in ihrem Heimatland mit Kette
und Brandmarkung geahndet wurde, galt hier als erlaubtes Vergnügen gemäß
der Conquistadorendoktrin: Ultra equinoxialem non peccatur. Sie
beschlagnahmten Land, wo und wieviel sie wollten, sie holten sich
Eingeborene, wo sie sie gerade fanden und ließen sie unter der Peitsche
roboten. Sie nahmen jede Frau, die ihnen über den Weg lief, und die
ungeheure Zahl der Mischkinder illustrierte bald die Verbreitung dieser
wilden Vielweiberei. Niemand war zur Stelle, ihnen Autorität aufzuzwingen,
und so lebte jeder dieser Gesellen, die meist noch die Brandmale des
Zuchthauses auf den Schultern trugen, wie ein Pascha, ohne sich um Recht
und Religion zu kümmern und vor allem ohne jemals selbst die Hand zu
wirklicher Arbeit zu rühren. Statt das Land zu zivilisieren, waren diese ersten
Kolonisten selber verwildert.
Dieser rüden, an Müßiggang und Selbstherrlichkeit gewöhnten Rotte
wieder Zucht beizubringen, bedeutete eine harte Aufgabe. Was die frommen
Brüder am meisten entsetzt, ist die zügellose Vielweiberei, das braune
Haremswesen. Aber anderseits, wie diese Männer anklagen, daß sie hier in
wildem Konkubinat leben, da doch gar keine Möglichkeit für sie besteht,
legal zu heiraten und eine Familie zu gründen? Denn wie eine Familie
gründen, die allein Grundlage bürgerlicher Gesittung werden kann, wenn
weiße Frauen völlig fehlen? So drängt Nóbrega den König, er möge Frauen
aus Portugal herüberschicken: Mande Vossa Alteza mulheres órfãs, porque
tôdas casarão. Und da nicht zu erwarten ist, daß die Fidalgos Portugals ihre
Töchter in das weite und entlegene Land senden werden, damit sie sich unter
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197