Seite - 47 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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eben eingetroffenen José Álvares Maciel und Joaquim José da Silva Xavier,
der unter dem Namen »Tiradentes« der vielbesungene Held dieser ersten
wirklich brasilianischen Freiheitsbewegung geworden ist. Es sind durchwegs
Männer geistiger Berufe, die sich in diesen geheimen Konventikeln
vereinigen, Ärzte, Dichter, Juristen, Magistratspersonen, dieselbe
neuaufsteigende bürgerliche Schicht, die zur gleichen Stunde in Frankreich
die Revolution führt – Männer, die gerne diskutieren und sich an Büchern und
Ideen begeistern, Männer, die gerne sprechen und diesmal zu viel sprechen. In
ihrem Enthusiasmus sehen sich die Verschwörer, noch lange ehe sie die
Verschwörung richtig geplant und organisiert haben, schon am Ziel und
suchen ungestüm und gutgläubig Freunde für ihr noch durchaus theoretisches
Projekt. So kann der Gouverneur, von eingeschmuggelten Spionen ständig
informiert, im voraus zuschlagen, ehe sie selbst sich zur Tat entschlossen
haben. Die meisten der jungen Leute werden zur Deportation nach Afrika
verurteilt, der Dichter Cláudio Manuel da Costa tötet sich im Gefängnis, und
nur einer, Joaquim José da Silva Xavier, der »Tiradentes«, der frei und
heroisch vor dem Tribunal sich zu seiner Überzeugung bekennt, wird auf die
grausamste Weise am 21. Juli 1789 in Rio de Janeiro hingerichtet und die
Stücke seines zermarterten Leibs para terrível escarmento dos povos an den
Straßenkreuzungen von Minas aufgenagelt. Aber damit ist der Funke der
Freiheitsbewegung keineswegs niedergetreten, er glimmt weiter unter der
Erde. Zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts ist Brasilien wie alle seine
südamerikanischen Nachbarstaaten von Argentinien bis Venezuela hinauf
innerlich schon für den Abfall von Europa bereit und wartet nur noch auf die
gegebene Stunde.
Ein Zufall hält diesen Abfall noch um zwei Jahrzehnte auf. Portugal ist in
den napoleonischen Kriegen in die schlimmste Lage geraten, die es im Kriege
gibt: zwischen Hammer und Amboß. In dem erschöpfenden Ringen der
beiden Giganten Napoleon und England wäre das kleine Land naturgemäß
gewillt, abseits und neutral zu bleiben.
Aber wenn die Gewalt ein Jahrhundert regiert, ist für Friedwillige kein
Raum; sowohl Frankreich, das Portugals Häfen will, als auch England, das sie
gegen die Kontinentalsperre benötigt, fordern Entscheidung. Und diese
Entscheidung ist fürchterlich verantwortungsvoll für König João VI.
Napoleon beherrscht den Kontinent, England beherrscht die See. Widerstrebt
der König Napoleons Forderung, so marschiert Napoleon ein, und dann ist
Portugal verloren. Widerstrebt er England, so sperrt England das Meer, und er
verliert Brasilien. Angesichts dieser unerbittlichen Wahl, ob Lissabon vom
Lande aus durch Napoleon oder von der See her von den Engländern
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197