Seite - 50 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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König João VI. hat zwölf Jahre in Brasilien residiert, Zeit genug, um zu
erkennen, wie stark, wie eigenwillig, wie national das Land mit dem neuen
Jahrhundert geworden ist; im tiefsten Herzen vermag er sich der schlimmen
Vorahnung nicht ganz zu erwehren, daß eine Personalunion zweier Länder
über dreitausend Meilen Ozean auf die Dauer nicht haltbar sein wird. Aus
dieser Erkenntnis gibt er seinem Sohn Dom Pedro, den er als defensor
perpétuo do Brasil eingesetzt hat, den Rat, im Notfall lieber selbst die Krone
Brasiliens sich auf das Haupt zu setzen, ehe irgendein fremder Abenteurer sie
an sich reißt. Tatsächlich zeitigt die Abreise des Königs eine nationale
Bewegung, welche die independência fordert, und die von dem Thronfolger
eher gefördert als gehemmt wird. Nach scheinbarem Widerstand erklärt der
junge Ehrgeizige am 7. September 1822, geführt von dem hervorragenden
patriotischen Minister José Bonifácio de Andrada e Silva, dem ersten wirklich
brasilianischen Staatsmann, der mit großer geistiger Überlegenheit den
Ehrgeiz des Thronfolgers für seine patriotischen Ziele auszunützen weiß, die
Unabhängigkeit Brasiliens; am 12. Oktober 1822 wird der bisherigedefensor
perpétuo als Pedro I. zum Kaiser von Brasilien proklamiert, nachdem er zuvor
geschworen, nicht als autokratischer Herrscher, sondern als konstitutioneller
Fürst das Land zu regieren. Nach kurzen Kämpfen teils mit treugebliebenen
portugiesischen Truppen, teils mit revolutionären Bewegungen, wird die
äußere Ruhe im Lande hergestellt; die innere freilich ist schwerer zu erringen.
Das brasilianische Unabhängigkeitsgefühl, von den unerwartet raschen
Erfolgen berauscht, will noch sichtbarere Triumphe. Auch diesen seinen
ersten Kaiser empfindet es noch nicht als den eigenen, den eigentlichen, den
wirklich brasilianischen; das Volk kann Pedro I. nicht verzeihen, daß er
geborener Portugiese ist, und der Verdacht will nicht verstummen, er würde
nach dem Tode seines Vaters versuchen, die beiden Kronen wieder zu
vereinigen. Auch versteht Pedro I., mehr Romantiker als Realist, bravourös,
aber allzuviel mit erotischen Privatangelegenheiten beschäftigt und den Hof
der Willkür seiner Maitresse, der Marquise von Santos, aussetzend, sich nicht
bei seinem Volke beliebt zu machen.
Den entscheidenden Stoß gibt der unglückliche Krieg gegen Argentinien,
in dem Brasilien seine »cisalpinische Republik« verliert. Im historischen
Sinne bedeutet der Ausgang dieses Krieges zwar eher einen politischen
Gewinn; durch die Schaffung eines unabhängigen Uruguay ist ein für allemal
jeder Konflikt zwischen den beiden mächtigen Schwesternationen Brasilien
und Argentinien ausgeschaltet und durch dauernde Freundschaft ersetzt. Aber
1828 sieht das Land nur den Verzicht auf die La-Plata-Mündung, der
Brasilien sehnsüchtig seit Jahren zustrebt, und der Kaiser muß diesen Unmut
fühlen. Es hilft nichts, daß er 1830, nach dem Tode João VI., die ihm rechtlich
zufallende Krone Portugals ausschlägt und damit bekundet, daß er sich
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197