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ihn noch vom Totenbette aus beschwört: Não perturbem a marcha do
elemento servil, der also auch dieses Problem auf brasilianische, will sagen
unradikale Art gelöst sehen wollte. Die wirtschaftlichen Folgen sind im
voraus so unberechenbar, der leidenschaftliche Gegensatz zwischen
Abolitionisten und Sklavenhaltern so unerbittlich, daß der Thron sich
gleichsam nur in einer Schaukelstellung zwischen beiden Parteien erhalten
kann, weil das Überneigen zur einen oder zur anderen Gruppe seinen Sturz
bedeuten könnte. Bis 1884, über vierzig Jahre, hält der Kaiser darum seine –
privat wohlbekannte – Meinung möglichst zurück. Aber allmählich wächst
seine Ungeduld, sich von dem Odium zu befreien; ein vorläufiges Gesetz
1885 ordnet die Befreiung aller Sklaven an, soweit sie das sechzigste Jahr
überschritten haben – wieder ist ein kräftiger Ruck nach vorwärts getan. Noch
immer aber ist der Zeitraum, der automatisch zur Befreiung der letzten
Sklaven in Brasilien führte, länger als jener, der einem alten und schon
kranken Manne zugemessen scheint, der diese Stunde noch selbst erleben
will; so stützt Pedro II. immer sichtlicher im Einverständnis mit seiner
Tochter, Dona Isabel, der Thronerbin, die Partei der Abolitionisten. Am 13.
Mai 1888 wird endlich das langersehnte Gesetz beschlossen, das eindeutig
und ohne Aufschub die sofortige Freilassung sämtlicher Sklaven in Brasilien
dekretiert.
Beinahe hätte der alte Kaiser die Erfüllung seines ehrgeizigen Wunsches
nie erfahren. In den Tagen, wo der Jubel über die Nachricht die Straßen
Brasiliens füllt, liegt Dom Pedro II. lebensgefährlich krank in einem Hotel in
Mailand. Im April hatte er noch mit seinem gewohnten Lerneifer die Museen
und die Gelehrten Italiens besucht; er war in Pompeji und in Capri gewesen,
in Florenz und Bologna, er war in Venedig in der Accademia prüfend von
Bild zu Bild gegangen und hatte abends im Theater Eleonora Duse gehört und
Carlos Gomes, den brasilianischen Komponisten, empfangen. Dann wirft ihn
eine schwere Pleuritis auf das Krankenbett. Charcot aus Paris und drei andere
Ärzte behandeln ihn, aber der Zustand des Kaisers verschlimmert sich derart,
daß er bereits mit den Sterbesakramenten versehen wird. Besser als alle
Medizinen und Mittel wirkt auf ihn die Nachricht von der Aufhebung der
Sklaverei. Das Telegramm gibt ihm neue Kräfte, und in Aix-les-Bains und
Cannes erholt er sich so weit, daß er nach einigen Monaten wieder daran
denken kann, in die Heimat zurückzukehren.
Der Empfang des alten weißbärtigen Monarchen, der seit fünfzig Jahren
friedlich und würdig das Land beherrscht hat, ist in Rio enthusiastisch. Aber
der Lärm einer einzelnen Straße spricht nie die Stimmung eines ganzen
Volkes aus. In Wirklichkeit hat die Entscheidung in der Sklavenfrage noch
mehr Unruhe geschaffen als vordem der Parteienkampf, denn noch schwerer
als die Warnenden vorausgesehen, setzt die wirtschaftliche Krise ein. Viele
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197