Seite - 55 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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ehemalige Sklaven laufen vom Lande in die Städte, die landwirtschaftlichen
Unternehmen, denen plötzlich ihre main d’œuvre entzogen ist, geraten in
Schwierigkeit, und die früheren Eigentümer fühlen sich beraubt, weil ihnen
keine oder keine zureichenden Entschädigungen für ihren Kapitalverlust an
schwarzem Elfenbein gezahlt werden. Die Politiker, die den scharfen Wind
spüren, gebärden sich aufgeregt, weil sie nicht wissen, wohin den Mantel
hängen, und die republikanischen Tendenzen, die in Brasilien seit der
Unabhängigkeitserklärung Nordamerikas immer unter der Asche glommen,
bekommen unerwartete Nahrung durch diese scharfe Zugluft. Die Bewegung
richtet sich nicht eigentlich gegen den Kaiser selbst, dessen guten Willen,
dessen Rechtschaffenheit und ehrlich demokratische Gesinnung selbst die
prinzipiellsten Republikaner achten müssen. Aber Dom Pedro II. fehlt eine
und zwar die wichtigste Voraussetzung zur Erhaltung einer Dynastie: der nun
Fünfundsechzigjährige hat keinen Sohn, keinen männlichen Thronerben.
Zwei Söhne sind in frühem Alter gestorben, die Erbtochter ist mit einem
Prinzen d’Eu aus dem Hause Orléans verheiratet, und das brasilianische
Nationalbewußtsein ist schon so stark und zugleich empfindlich geworden,
daß es einen Prinzgemahl aus fremdem Geblüt nicht mehr anerkennen will.
Der eigentliche Staatsstreich geht von der Armee aus, einer ganz kleinen
Gruppe, und könnte bei energischer Gegenwehr wahrscheinlich leicht
niedergeschlagen werden. Aber der Kaiser selbst, alt und krank und eigentlich
des Regierens längst müde, empfängt in Petrópolis die Nachricht ohne rechten
Willen zum Widerstand; nichts kann seiner konzilianten Natur verhaßter sein
als ein Bürgerkrieg. Da weder er noch sein Schwiegersohn rasche
Entschlossenheit zeigen, zerfließt und zerrinnt über Nacht die
monarchistische Partei. Fast lautlos fällt die Kaiserkrone zu Boden, auch
diesmal, da sie verlorengeht, ebensowenig von Blut befleckt, als da sie
gewonnen wurde; der eigentliche moralische Sieger ist wiederum die
brasilianische Konzilianz. Ohne jede Gehässigkeit legt die neue Regierung
dem alten Manne nahe, der fünfzig Jahre ein wohlgesinnter Herrscher des
Landes gewesen, friedlich sich zu entfernen und in Europa zu sterben. Und
nobel und still, ohne ein Wort der Anklage verläßt am 17. November 1889
Dom Pedro II. wie einst sein Vater und sein Großvater für immer den
amerikanischen Kontinent, der für Könige keinen Raum hat.
Seitdem sind die »Estados Unidos do Brasil« eine föderalistische Republik
und sind es geblieben. Aber diese Umwandlung aus einem Kaiserreich in eine
Republik hat sich ebenso ohne innere Erschütterungen vollzogen wie vordem
der Übergang vom Königreich zum Kaiserreich und in unseren Tagen die
Übernahme der Präsidentschaft durch Getúlio Vargas; nie sind es die äußeren
Staatsformen, die den Geist und die Haltung eines Volkes bestimmen, sondern
immer nur der eingeborene Charakter der Nation, der im letzten Sinne sein
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197