Seite - 69 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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eigener Kraft.
So läßt sich keine bequemere Kolonie erdenken als Brasilien mit seinem
stillen, ständigen Wachstum, seiner bescheidenen – und fast möchte man
sagen: lautlosen – Entwicklung, die sich fast unbemerkt von der übrigen Welt
vollzieht. Es ist nichts in diesem Land, das still und ständig nach innen wächst
und nach außen bloß Zucker produziert oder Tabak in großen braunen Ballen
an die Handlungskontore verschickt, was auf die Phantasie oder auch nur die
Neugier Europas stimulierend wirken könnte. Die Eroberung Mexikos,
die Goldkammern der Inkas, die Silbergruben von Potosi, die Perlen des
Indischen Ozeans, die Kämpfe der amerikanischen Farmer mit den Rothäuten,
die Kämpfe mit den Flibustiern des karibischen Meers lockt die Dichter und
die Chronisten zu romantischen Erzählungen und fasziniert den nach
Abenteuern ständig ausspähenden Unruhegeist der Jugend. Brasilien dagegen
liegt Jahrzehnte, ja eigentlich zwei Jahrhunderte lang im Schatten der
Weltaufmerksamkeit. Aber gerade diese lange Verborgenheit und Abseitigkeit
war im letzten Brasiliens Glück. Nichts ist seiner ruhigen, organischen
Entwicklung förderlicher gewesen, als daß seine münzbaren Schätze, daß sein
Gold, seine Diamanten bis zum Anfang des achtzehnten Jahrhunderts
unentdeckt unter der Erde lagen. Wäre dieses Gold, wären diese Diamanten
im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert schon gefunden worden, so
hätten die großen Nationen in einem rasenden Wettkampf auf diese Beute sich
gestürzt. Von Peru, von Venezuela, von Chile wären die Rotten der
Conquistadoren unaufhaltsam hereingebrochen, Brasilien wäre zum
Schlachtfeld geworden aller schlimmen Instinkte, aufgewühlt, zerrissen und
zerstückelt. Aber 1700, da Brasilien sich mit einem Schlage als das reichste
Goldland der damaligen Welt offenbart, ist die Zeit der Abenteurer und
Conquistadoren, der Villegaignons, der Walter Raleighs, der Cortez, der
Pizarros schon endgültig vorbei, die wilde, nie mehr wiederkehrende Epoche
des Wagemuts, da ein paar entschlossene Abenteurer mit vier oder fünf
Schiffen und ein paar hundert Soldaten ganze Länder massakrieren und
unterjochen konnten. 1700 ist Brasilien schon eine Einheit und eine Kraft; es
hat seine Städte, seine Festungen, seine Häfen, und – was immer
entscheidender ist als dies alles – es bildet bereits eine nationale
Gemeinschaft und in ihr eine unsichtbare Armee, die bis zum letzten Manne
gegen jeden fremden Einbruch sich wehren würde und sogar dem eigenen
Mutterland über dem Meer nurmehr unwillig Zoll und Tribut zubilligt. Es
braucht nur noch eines: mehr Zeit und mehr Menschen. Auf die Dauer wird
der Stille und der Geduldige gerade der Stärkste sein.
Die Entdeckung des Goldes in der Provinz Minas Gerais ist mehr als ein
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197