Seite - 70 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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nationales Ereignis für Brasilien und Portugal. Es ist ein Weltgeschehnis, das
die ganze ökonomische Gestaltung der damaligen Wirtschaft entscheidend
beeinflußt hat; nach der Feststellung Werner Sombarts wäre die
kapitalistische und industrielle Entwicklung Europas zu Ende des achtzehnten
Jahrhunderts unmöglich gewesen ohne den gewaltigen und stimulierenden
Einstrom des brasilianischen Goldes in die sofort rascher pulsenden Adern
des europäischen Wirtschaftslebens. Was Brasilien, dieses bisher unbeachtete
Land, an Gold mit einemmal auf den Markt wirft, ist für die damalige Zeit
eine kaum vorstellbare Summe. Nach den verläßlichen Schätzungen Roberto
Simonsens ist in dem einen Bergtal von Minas Gerais in diesem halben
Jahrhundert mehr Gold gefördert worden, als in ganz Amerika
zusammengenommen bis zur Entdeckung der kalifornischen Goldgruben im
Jahre 1852. Die Beute Perus und Mexikos, die das sechzehnte Jahrhundert in
einen Ausbruch von Tollheit versetzte und mit einem Schlage den Sachwert,
den Geldwert aller Dinge verdoppelte und verdreifachte (wie Montesquieu in
seiner berühmten Studie »Les Richesses de l’Espagne« so großartig
geschildert hat), stellen kaum ein Fünftel, vielleicht nur ein Zehntel dessen
dar, was die lange mißachtete Kolonie ihrem Mutterlande bringt. Das
eingestürzte Lissabon ist aus diesem Golde neu aufgebaut worden, das
gigantische Kloster Mafra aus dem »Quinto«, dem an den König
abzuliefernden gesetzlichen Fünftel errichtet; die plötzliche Blüte der
englischen Industrie konnte nur so großartig aufschießen aus diesem gelben
Dünger, Handel und Wandel Europas geraten durch diesen plötzlichen
Zustrom in beschleunigten Schwung. Für eine Weltstunde, für fünfzig Jahre,
ist Brasilien die Münzkammer der alten Welt und die ergiebigste, beneidetste
Kolonie, die ein europäischer Staat besitzen kann. Für einen Augenblick will
es scheinen, als sei der Traum der Conquistadoren erfüllt und das sagenhafte
Eldorado gefunden.
Diese Episode des Golds – denn es wird nicht mehr als eine Episode in der
Geschichte Brasiliens sein – ist dermaßen dramatisch in Aufstieg, Ablauf und
Ausklang, daß man sie am besten wie ein Theaterstück mit einzelnen Akten in
Szenen schildert.
Der erste Akt spielt knapp vor 1700 in einem Bergtal von Minas Gerais,
das damals noch keine Provinz ist, sondern ein menschenleerer Humus ohne
Städte und Wege. Eines Tages ziehen von Taubaté, einer kleinen
Niederlassung der Paulisten, ein paar Männer zu Pferd und zu Maultier gegen
die Hügel, die der kleine Rio das Velhas in vielen Krümmungen und
Windungen durchbricht; wie tausend andere vor ihnen sind diese Männer
ausgezogen nach einem Irgendwohin, ohne einen Weg zu wissen und
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197