Seite - 75 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Scholle wie der Bauer der engen europäischen Gemarkung, der völlig seinem
Haus wie seinem Grund verhaftet ist. In Brasilien, wo die Erde im ganzen
Hinterlande frei war und jeder sie nehmen konnte, wo er wollte und wie er
wollte, ist der Mensch wanderlustig und unternehmungsbereit. Es ergab sich
hier ganz natürlich, daß der Ansiedler, weniger traditionell gebunden als der
europäische Bauer, leicht seinen Wohnsitz tauschte und jeder neuen
Gelegenheit willig folgte, die sich ihm bot. So prägen die großen
Umschaltungen in der brasilianischen Wirtschaft von einem Monopolprodukt
zum andern, die sogenannten Zyklen der Produktion, sich auch als
Wanderungen und Verschiebungen des siedlerischen Gleichgewichts aus, und
man könnte in gewissem Sinne diese Zyklen ebenso wie nach den
Produktionsobjekten nach den Städten und Landschaften benennen, die sie
geschaffen haben. Die Ära des Holzes, des Zuckers und Cotons hat den
Norden besiedelt. Sie hat Bahia geschaffen, Recife, Olinda, Pernambuco und
Ceará. Minas Gerais ist besiedelt worden durch das Gold. Rio de Janeiro wird
seine Größe der Umsiedlung des Königs mit seinem Hofe danken, São Paulo
seinen phantastischen Aufstieg dem Imperium des Kaffees, Manaus und
Belém ihre plötzliche Blüte dem rasch ablaufenden Zyklus des Gummis, und
noch wissen wir die Lage der Städte kaum, die der nächste Umschwung, die
Erzgewinnung, die Industrie zu plötzlichem Wachstum bringen wird.
Dieser Prozeß der Gleichgewichtsverteilung, der noch heute in vollem
Gang ist, – denn der Brasilianer ist dank seiner dunklen Erbschaft besonders
beweglich von Natur –, und der dauernd gefördert wurde durch eine ständige
Zumischung von erst der afrikanischen, dann der europäischen Immigration,
hat verhindert, daß der organische Ausbreitungsprozeß jemals völlig ins
Stocken geraten ist. Er hat eine allzu stabile soziale Schichtung verhindert,
und statt des partikulären Elements das nationale stärker herausgearbeitet.
Man hört noch hie und da sagen, daß dieser von Bahia stammt und jener aus
Porto Alegre, aber bei näherer Nachfrage erfährt man, daß Vater oder Mutter
fast immer von anderer Herkunft sind; dank dieser ständigen Transfusion und
Transplantation hat sich dieses Wunder der brasilianischen Einheitlichkeit bis
auf den heutigen Tag gerettet, wo durch die gesteigerten
Verbindungsmöglichkeiten die bindenden Kräfte des Radios und der Zeitung
eine nationale Zusammenfassung viel selbstverständlicher machen. Während
das spanisch-südamerikanische Reich, das weder räumlich noch an
Menschenanzahl dem ehemaligen portugiesischen Kronland überlegen ist,
schon im Grundplan durch die Aufteilung in einzelne Gouverneursbezirke die
Sonderheiten Argentiniens, Chiles, Perus, Venezuelas in dialektischen
Formen, in Sitte und Habitus schärfer herausarbeitet, bereitete die
zentralistisch geführte Regierungsform Brasiliens schon von Anfang an eine
völlig einheitlich ökonomische und nationale Form vor, die, weil früh und
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197