Seite - 88 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Kolonialprodukte unvermeidlich; aber der neuerliche Abbruch der
Kaffeekonjunktur verödete nicht São Paulo, wie einstens das Aufhören des
Goldes die Städte von Minas Gerais und die Gummikatastrophe Manaus.
Schon hatte die Wirtschaft die Weisheit des alten englischen Sprichworts
gelernt, daß man nicht alle Eier in einem einzigen Korb tragen solle, und sich
auf eine solidere Basis gestellt als den eines einzigen, allen
Weltmarktschwankungen unterworfenen Monopol- oder Zentralartikels. Das
Gleichgewicht blieb erhalten, weil der Verlust auf der einen Linie
kompensiert werden konnte durch die scharf ansteigende Konjunktur der
Industrie, die ein Großteil dessen, was sie vordem aus Deutschland und den
anderen abgesperrten Ländern beziehen mußte, nun im eigenen Lande und
aus eigenem Material in immer größeren Dimensionen erzeugt. Wie die
Napoleonkriege indirekt die politische Unabhängigkeit, so hat Hitlers Krieg
die Industrie Brasiliens geschaffen, und genau wie seine politische, so wird
sich dieses Land wohl auch die ökonomische durch die Jahrhunderte zu
erhalten wissen.
Aus der Gegenwart einen Blick in die Zukunft zu tun, ist immer
bedenklich. Mit seinen fünfzig Millionen Menschen und seinem riesigen
Raum eine der großartigsten Kolonisationsleistungen der Menschheit, steht
Brasilien heute doch erst im Anfang seiner Entwicklung. Noch lange sind die
Schwierigkeiten nicht überwunden, die sich seinem endgültigen Aufbau
entgegenstellen, und trotz der gewaltigen Leistung sind manche dieser
Schwierigkeiten noch immer beträchtlich. Um diese durch Jahrhunderte
getane Leistung richtig einschätzen zu können, fordert die Gerechtigkeit, auch
die Hemmungen in Betracht zu ziehen, die sich ihr entgegensetzten und noch
immer entgegensetzen; es gibt kein besseres Maß für die Willenskraft eines
Menschen wie eines Volkes, als die Schwierigkeiten, die bei seiner
physischen oder moralischen Leistung zu überwinden sind.
Von den beiden Hauptschwierigkeiten, die Brasilien gehemmt haben, das
volle Ausmaß seiner potentiellen Kräfte einzusetzen, liegt eine offen zutage,
während die andere sich zunächst dem oberflächlichen Blick verbirgt. Die
geheime und darum tückischere Gefahr für die volle Auswirkung seiner
Energien liegt im Gesundheitszustand der Bevölkerung, der von den
Regierungsstellen weder verschwiegen noch unterschätzt wird. Brasilien,
dieses friedlichste Land, hat einige erbitterte Feinde im Innern, die ihm
alljährlich soviele Menschen rauben oder schwächen, wie in einem
kriegführenden Lande ein Feldzug. Es muß ständig kämpfen gegen Milliarden
winziger und kaum sichtbarer Wesen, gegen Bazillen und Mücken und andere
tückische Krankheitsträger.
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197