Seite - 89 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Bild der Seite - 89 -
Text der Seite - 89 -
Der Hauptfeind ist heute noch immer die Tuberkulose, die an die
zweimalhunderttausend Menschen jährlich, also ganze Armeekorps, dem
Lande wegrafft. An und für sich scheint der brasilianische Mensch, weil zart
geartet, dieser peste branca, dieser weißen Pest wehrloser ausgeliefert. Dazu
kommt, besonders im Norden, Unterernährung oder vielmehr falsche
Ernährung innerhalb eines Landes, das von Lebensmitteln strotzt. Eine
kräftige Gegenaktion der Regierung hat bereits eingesetzt, um wenn schon
nicht der Krankheit selbst, so doch ihrem Verbreitungsfaktor Einhalt zu
gebieten, und diese Campagne dürfte in den nächsten Jahren noch verstärkt
werden. Aber wenn nicht die Medizin, die moderne Wissenschaft das seit
Jahrzehnten ersehnte Heilmittel schafft, so wird noch lange mit diesem
gefährlichen Gegner zu rechnen sein, während die Syphilis hier durch
jahrhundertelange Verbreitung an Intensität verloren hat und durch die
Ehrlich-Therapie bald erledigt sein dürfte.
Der zweite Feind ist die Malaria, der Paludismo, an sich schon durch die
klimatischen Umstände des Nordens beinahe bedingt und noch gemehrt durch
den unvermuteten Einbruch der Anopheles Gambia, von der einige Exemplare
sich 1930 in dem Flugzeug von Dakar aus Afrika mit herüberschmuggelten
und, wie im guten Sinne jede Frucht und jede Pflanze und jedes Tier und
jeder Mensch, sich hier rasch heimisch gemacht und vermehrt haben.
Die dritte Krankheit im Bunde ist die Lepra, die, solange man eine
Radikalkur für diese nicht kennt, nur durch Isolation eingedämmt werden
kann. Alle diese Krankheiten verursachen, auch sofern sie nicht gerade
tödlichen Ausgang zu verzeichnen haben, eine gewaltige Schwächung der
Produktionsfähigkeit. Besonders im Norden ist die durch das Klima ohnehin
schon herabgeminderte Leistung großenteils noch tief unter dem europäischen
und nordamerikanischen Niveau, und wenn die statistische Tabelle vierzig bis
fünfzig Millionen Einwohner verzeichnet, so entspricht die produktive
Auswirkung dieser Ziffer nicht im entferntesten der Energieleistung einer
gleichen Masse von Nordamerikanern, Japanern oder Europäern, die mit einer
viel höheren Gesundheitsquote und unter besseren klimatischen Bedingungen
zustande kommt. Eine erschreckend große Zahl von Menschen wirkt hier
noch immer weder als Produzenten noch als Konsumenten im
wirtschaftlichen Leben mit; die Statistik schätzt die Zahl der Leute ohne
Beschäftigung oder ohne bestimmte Beschäftigung auf 25 Millionen, und ihr
Standard ist besonders in den äquatorialen Zonen so tief, daß die
Ernährungsverhältnisse manchmal schlechter sind als in der Sklavenzeit.
Diese unerfaßbare Masse in den amazonischen Wäldern und in den Tiefen der
Randprovinzen wirtschaftlich wie gesundheitlich in das staatliche Leben
einzuordnen, ist eine der großen Aufgaben, die heute die Regierung schon
dringlich beschäftigt und die zu ihrer endgültigen Lösung noch Jahrzehnte
89
zurück zum
Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197