Seite - 90 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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erfordern wird.
Es ist also der Mensch, sofern wir ihn als produktive Kraft betrachten, in
Brasilien noch nicht im entferntesten ausgenützt, und ebensowenig ist es die
Erde mit allen ihren oberirdischen und unterirdischen Reichtümern. Hier liegt
die Schwierigkeit offen zutage (und nicht verborgen wie bei der Krankheit).
Sie ist bedingt durch das noch immer nicht überwundene Mißverhältnis
zwischen Raum, Bevölkerungszahl und Transport. Man darf sich nicht
blenden lassen durch die vorbildliche Organisation und moderne Kultur in
São Paulo, wo ein Haus an das andere sich reiht, die Wolkenkratzer in den
Himmel klettern und die Automobile ständig im Wettlauf rennen. Zwei
Stunden hinter der Küste verlieren sich die asphaltierten Musterstraßen in
ziemlich zweifelhafte Chausseen, die nach einem der so häufigen tropischen
Regengüsse für Tage unbefahrbar oder nur mit Ketten befahrbar sind, und es
beginnt der sertão, die dunkle und noch lange nicht einer wirklichen
Zivilisation gewonnene Zone. Jede Reise rechts und links von der
Hauptstraße wird zum Abenteuer. Die Eisenbahnen reichen nicht tief genug in
das Innere und sind mit ihren drei verschiedenen Spurweiten schlecht
untereinander verbunden, außerdem so langsam und unpraktisch, daß man
sowohl hinunter nach Porto Alegre wie hinauf nach Bahia und Belém viel
rascher zu Schiff als mit diesen Bahnen kommt. Die großen Wasserläufe
anderseits, wie der São Francisco oder Rio Doce, sind nur selten und
unzulänglich beschifft und demzufolge große und wesentliche Teile des
Landes – soweit nicht das Flugzeug hilft – eigentlich nur durch individuelle
Expeditionen zu erreichen. Noch immer leidet also – medizinisch gesprochen
– dieser gewaltige Körper an einer ständigen Zirkulationsstörung, der
Blutdruck geht nicht gleichmäßig durch den ganzen Organismus, und
wesentliche Partien des Landes sind im wirtschaftlichen Sinne völlig
atrophisch. So liegen stumm und noch unausgenützt die kostbarsten Produkte
unter der Erde, ohne der Industrie zu dienen. Man weiß heute genau, wo sie
liegen, aber es hat keinen Sinn, sie zu schürfen, solange nicht die Möglichkeit
besteht, sie abzutransportieren. Wo das Erz liegt, fehlt die Bahn oder das
Schiff, die Kohle heranzufrachten, wo die Viehzucht üppig und leicht blühen
könnte, die Möglichkeit, das Vieh zu verladen. Ursache und Wirkung (oder
vielmehr Un-wirkung) beißt sich wie eine Schlange selbst in den Schwanz.
Die Produktion kann sich nicht in dem richtigen Tempo entwickeln, weil die
Straßen fehlen, die Straßen wiederum können nicht in rascher Folge gebaut
werden, weil ihre kostspielige Anlage und Erhaltung in dem welligen und
schwachbesiedelten Lande noch nicht einem rentablen Verkehr entsprechen.
Dazu kommt noch das besondere Verhängnis, daß auch für das neue
Beförderungsmittel, das Automobil, dem Brasilien des zwanzigsten
Jahrhunderts der gemäße Betriebsstoff, das Petroleum, auf dem eigenen
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197