Seite - 93 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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man neue Siedlungen, und noch mehr als alles ist hier der Geist und die
Freude an der Unternehmung gewachsen. Zu all den Kräften, den noch
ungehobenen und unbekannten Brasiliens, ist in den letzten Jahren eine neue
getreten: das Selbstbewußtsein der Nation. Lange hat sich dieses Land daran
gewöhnt gehabt, in Kultur und Fortschritt, in Arbeitstempo und Leistung
hinter Europa zurückzubleiben. Demütig hatte es, mit einer Art verspätetem
Kolonialbewußtsein zu der Welt über dem Ozean als der erfahreneren, der
weiseren, der besseren aufgeblickt. Aber die Verblendung Europas, das in
törichten Nationalismen und Imperalismen sich nun zum zweitenmal selbst
verwüstet, hat hier die neue Generation auf sich selbst gestellt. Vorbei ist die
Zeit, da Gobineau spotten konnte: Le brésilien est un homme qui désire
passionnément habiter Paris. Kein Brasilianer und selten ein Immigrant wird
sich mehr finden, der zurück wollte in die alte Welt, und dieser Ehrgeiz, sich
selbst allein und im Sinne der Zeit aufzubauen, drückt sich in einem ganz
neuen Optimismus und Wagemut aus. Brasilien hat gelernt, in den
Dimensionen der Zukunft zu denken. Wenn es ein Ministerium baut, wie jetzt
das Arbeitsministerium, das Kriegsministerium in Rio de Janeiro, so ist es
größer als eines in Paris oder London oder Berlin. Wenn ein Stadtplan
angelegt wird, kalkuliert man die fünffache, die zehnfache Bevölkerung von
vornherein ein. Nichts ist zu verwegen, nichts zu neu, als daß sich dieser neue
Wille nicht daran wagte. Nach langen Jahren der Unsicherheit und
Bescheidenheit hat das Land gelernt, in den Dimensionen seiner eigenen
Größe zu denken und mit seinen unbeschränkten Möglichkeiten als mit einer
bald greifbaren und erfaßbaren Realität zu rechnen. Es hat erkannt, daß Raum
Kraft ist und Kräfte erzeugt, daß nicht Gold und nicht erspartes Kapital den
Reichtum eines Landes bedeutet, sondern die Erde und die Arbeit, die auf ihr
geleistet wird. Wer aber besitzt noch mehr ungenutzte, unbewohnte,
unausgewertete Erde als dieses Reich, das in sich allein soviel Raum hat wie
die ganze alte Welt? Und Raum ist nicht nur bloße Materie. Raum ist auch
seelische Kraft. Er erweitert den Blick und erweitert die Seele, er gibt dem
Menschen, der ihn bewohnt und den er umhüllt, Mut und Vertrauen, sich
vorwärts zu wagen; wo Raum ist, da ist nicht nur Zeit, sondern auch Zukunft.
Und wer in diesem Lande lebt, spürt ihre Schwingen stark und beflügelnd
über sich rauschen.
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197