Seite - 96 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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sonst in den Nationalmuseen der Völkerkunde stolz die tausend Jahre alten
Erzeugnisse von autochthoner Schrift- und Werkkunst gezeigt werden, müßte
in den brasilianischen Museen eine völlig leere Ecke stehen. Gegen die
Tatsache hilft kein Suchen und Nachspüren, und versucht man heute manche
Tänze wie Samba oder Macumba als national-brasilianische zu deklarieren,
so verschattet und verschiebt man damit künstlich die wirkliche Situation,
denn diese Tänze und Riten sind von den Negern gleichzeitig mit ihren
Ketten und Brandmarkungen mitgebracht worden. Ebensowenig sind die
einzigen Kunstobjekte, die man auf brasilianischem Boden gefunden, die
bemalten Tongeräte auf der Insel Marajó, autochthonen Ursprungs; sie sind
zweifellos von Angehörigen fremder Rassen, wahrscheinlich von Peruanern,
die den Amazonenstrom bis zur Insel an seiner Mündung herunterkamen,
mitgenommen oder hier angefertigt worden. Man muß sich also damit
abfinden: nichts kulturell Charakteristisches in Architektur und jeder anderen
Form der Gestaltung reicht hier weiter zurück als bis in die Kolonialzeit, in
das sechzehnte oder siebzehnte Jahrhundert, und selbst deren schönste
Produkte in den Kirchen von Bahia und Olinda mit ihren goldstrotzenden
Altären und geschnitzten Möbeln sind unverkennbare Schößlinge des
portugiesischen oder jesuitischen Stils und kaum unterscheidbar von jenen in
Goa oder den eigenen des Mutterlands. Wo immer man im Historischen hier
über den Tag zurückgreifen will, da die ersten Europäer landeten, greift man
in ein Vakuum, in ein Nichts. Alles was wir heute brasilianisch nennen und
als solches anerkennen, läßt sich nicht aus einer eigenen Tradition erklären,
sondern aus einer schöpferischen Umwandlung des Europäischen durch das
Land, das Klima und seine Menschen.
Dieses typisch Brasilianische ist allerdings heute schon augenfällig und
persönlich genug, um nicht mehr verwechselt zu werden mit dem
Portugiesischen, sosehr die Verwandtschaft, die Kindschaft noch fühlbar ist.
Unsinnig, diese Abhängigkeit zu leugnen. Portugal hat Brasilien die drei
Dinge gegeben, die für die Formung eines Volkes entscheidend sind, die
Sprache, die Religion, die Sitte, und damit die Formen, innerhalb deren sich
das neue Land, die neue Nation entwickeln konnte. Daß diese Urformen sich
unter anderer Sonne und in anderen Dimensionen und bei immer stärker
einströmendem fremdem Blut zu einem anderen Inhalt entwickelten, war ein
unvermeidlicher, weil organischer Prozeß, den keine königliche Autorität und
keine bewaffnete Organisation aufhalten konnte. Vor allem hat sich die
Denkrichtung der beiden Nationen voneinander verschieden entwickelt;
Portugal, als das historisch ältere Land, träumt zurück in eine große, wohl nie
mehr zu erneuernde Vergangenheit, Brasiliens Blick ist in die Zukunft
gerichtet. Das Mutterland hat seine Möglichkeiten – in großartigster Weise –
schon einmal erschöpft, das neue die seinen noch nicht völlig erreicht. Es ist
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197