Seite - 100 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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einzelnen nicht daran, sich nach Farbe oder Herkunft zu schichten, sondern
arbeiten friedlich und freundlich zusammen. Japaner heiraten Negerinnen und
Weiße wiederum Braune: das Wort »Mischling« ist hier kein Schimpfwort,
sondern eine Feststellung, die nichts Entwertendes in sich hat: der Klassenhaß
und Rassenhaß, diese Giftpflanze Europas, hat hier noch nicht Wurzel und
Boden gefaßt.
Diese ungemeine Zartheit des Seelischen, diese vorurteilslose und arglose
Gutartigkeit, diese Unfähigkeit zur Brutalität büßt der Brasilianer mit einer
sehr starken und vielleicht überstarken Empfindlichkeit. Nicht nur
sentimental, sondern auch sensitiv veranlagt, besitzt jeder Brasilianer ein
besonderes leicht verletzbares Ehrgefühl und zwar ein Ehrgefühl besonderer
Art. Gerade weil er selbst so besonders höflich und persönlich bescheiden ist,
empfindet er jede und auch die unbeabsichtigtste Unhöflichkeit sofort als
Mißachtung. Nicht daß er heftig reagiert wie etwa ein Spanier oder Italiener
oder ein Engländer; er schweigt die vermeintliche Kränkung gleichsam in
sich hinein. Immer wieder wird einem dasselbe erzählt: in einem Hause ist
eine Angestellte, schwarz oder weiß oder braun; sie ist sauber, freundlich und
still und gibt nicht den geringsten Anlaß zu einer Beschwerde. Eines Morgens
ist sie verschwunden, die Hausfrau weiß nicht warum und wird es nie
erfahren. Sie hat ihr vielleicht gestern ein leises Wort des Tadels, der
Unzufriedenheit gesagt und mit diesem einen kleinen oder vielleicht zu lauten
Wort, ohne es zu ahnen, das Mädchen tief gekränkt. Das Mädchen revoltiert
nicht, beschwert sich nicht, sucht keine Auseinandersetzung. Still packt sie
ihre Sachen und geht lautlos fort. Es ist nicht in der Art des brasilianischen
Menschen, sich zu rechtfertigen oder Rechtfertigung zu fordern, sich zu
beschweren oder zornig auseinanderzusetzen. Er zieht sich nur in sich selbst
zurück; es ist seine natürliche Gegenwehr, und diesem stillen, geheimnisvoll
schweigsamen Trotz begegnet man hier überall. Niemand wird, wenn man
einmal eine Einladung oder Aufforderung auch in allerhöflichster Form
abgelehnt hat, sie wiederholen, kein Verkäufer in einem Geschäft, wenn man
mit dem Ankauf zögert, mit einem weiteren Wort zureden, und dieser
geheime Stolz, diese Empfindlichkeit des Ehrgefühls reicht hinab bis in die
untersten und alleruntersten Schichten. Während man in den reichste Städten
der Welt, in London und Paris und gar in den Südländern überall Bettler
findet, fehlen sie in diesem Lande, wo die »nackte Armut« oft kaum mehr ein
Wort der Übertreibung ist, fast vollkommen und dies nicht etwa infolge eines
energischen Dekrets, sondern aus der dem ganzen Volke eigenen
Hypertrophie der Empfindlichkeit, die auch die höflichste Zurückweisung
noch als Kränkung empfindet.
Diese Zartheit des Gefühls, diese Abwesenheit jeder Vehemenz will mir
vielleicht als die charakteristischste Eigenschaft des brasilianischen Volkes
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197