Seite - 102 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Paulo, in einem günstigeren Klima und eingepaßt in eine europäische
Organisation, leistet er genau dasselbe, wie irgendein anderer Arbeiter der
Welt, aber auch in Rio de Janeiro habe ich hunderte Male beobachtet, wie bis
tief in die Nacht die kleinen Schuster und Schneider noch in ihren engen
Werkstätten arbeiten, und redlich bewundert, wie auf den Baustellen bei einer
infernalischen Sommerhitze, wo es für einen selbst schon eine Anstrengung
bedeutet, einen Hut vom Boden aufzuheben, die schwere Arbeit des
Lasttragens inmitten der prallen Sonne ohne Pause weitergeht. Es ist also
keineswegs die Fähigkeit, die Willigkeit und das Tempo des einzelnen, das
zurückbleibt, es fehlt nur im ganzen jene europäische oder nordamerikanische
Ungeduld, mittels verdoppelten Einsatzes an Arbeit im Leben doppelt rasch
vorwärtszukommen – oder »hochzukommen«, wie man im deutschen Jargon
sagt – es ist also eher eine seelische Minderspannung, welche die
Gesamtheitsdynamik vermindert. Ein großer Teil der caboclos, besonders in
den tropischen Zonen, arbeitet nicht, um zu sparen und zurückzulegen,
sondern einzig, um die nächsten paar Tage zu fristen; wie immer in den
Ländern, wo die Welt schön ist, die Natur alles bietet, was man zum Leben
braucht, die Früchte rings um das Haus einem gleichsam in die Hand wachsen
und man für keinen schlimmen Winter vorzusorgen hat, stellt sich eine
gewisse Gleichgültigkeit gegen Gewinn und Sparsinn ein; man hat es nicht
eilig mit dem Geld und auch nicht mit der Zeit. Warum durchaus heute dies
liefern oder schaffen? Warum nicht morgen – amanhã, amanhã – warum in
einer so paradiesischen Welt sich übereilen? Pünktlichkeit gilt hier höchstens
insofern, als jede Vorlesung, jedes Konzert ziemlich pünktlich eine Viertel-
oder halbe Stunde später anfängt als angesagt; stellt man seine Uhr richtig
darauf ein, so versäumt man nichts und paßt sich selber an. Das Leben an sich
ist hier wichtiger als die Zeit. Oft geschieht es – so berichtete man mir zu
übereinstimmend, als daß ich es bezweifeln könnte – daß am Tage nach der
Lohnauszahlung der Arbeiter einfach zwei, drei Tage ausbleibt. Er hat fleißig
und flink die letzte Woche seine Pflicht getan und genug verdient, um in
bescheidenster, allerbescheidenster Weise noch zwei Tage ohne Arbeit
zu leben. Wozu dann diese zwei Tage noch arbeiten? Reich kann er von den
paar Milreis ohnehin nicht werden, also lieber diese zwei oder drei Tage in
stiller und behaglicher Weise genießen, und vielleicht muß man die Üppigkeit
der Welt hier gesehen haben, um dies zu verstehen. Während in einem grauen
und öden Flachland Arbeit die einzige Rettung des Menschen vor der
Freudlosigkeit des Daseins ist, erweckt innerhalb einer so reichen, von
Früchten überquellenden und durch Schönheit beglückenden Natur das Leben
den Wunsch nicht so heftig und so wild wie bei uns, reich zu werden.
Reichtum ist in der Vision des Brasilianers keineswegs mühsame Aufhäufung
von gespartem Geld aus unzähligen Arbeitsstunden, nicht Resultat eines
rasenden und nervenzerrüttenden Antriebs. Der Reichtum ist etwas, wovon
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197