Seite - 104 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Bild der Seite - 104 -
Text der Seite - 104 -
jeden Beweis zu entziehen, wird auf Treu und Glauben gespielt. Der
Winkelbankier stellt keine Bescheinigung für seine Klienten aus, aber es ist
kein einziger Fall bekannt, wo er seine Verpflichtung nicht verläßlich
eingehalten hätte. Dieses Spiel hat, vielleicht gerade um des Verbotenen
willen, alle Kreise erfaßt, jedes Kind in Rio weiß schon, kaum es in der
Schule zählen gelernt hat, welche Zahl jedes Tier darstellt, und kann die
ganze Liste besser heruntersagen als das Alphabet. Alle Autoritäten, alle
Strafen haben sich als illusorisch erwiesen. Denn wozu träumt der Mensch
des Nachts, wenn er dann nicht morgens seinen Traum in Ziffer und Zahl, in
Tier- und Lottospiel umsetzen dürfte? Wie immer haben sich die Gesetze
machtlos erwiesen gegen eine wirkliche Volksleidenschaft, und immer wieder
wird der Brasilianer, was ihm an Raffgier fehlt, kompensieren durch diesen
täglichen Traum von plötzlichem Reichwerden.
Es ist also keine Frage: wie aus der Erde selbst noch lange nicht alle
potentiellen Werte, so hat auch die große Masse Brasiliens aus sich noch nicht
hundertprozentig herausgeholt, was in ihr an Begabung, an Arbeitskraft, an
aktiven Möglichkeiten steckt. Aber im ganzen gesehen ist in Anrechnung der
klimatischen Hemmungen, der körperlichen Feinorganisiertheit die Leistung
eine äußerst respektable, und man zögert nach den Erfahrungen der letzten
Jahre, ein allfälliges Manko an Ungeduld und Impetus, ein Es-nicht-allzu-
eilig-Haben mit dem Vorwärtskommen, einen Fehler zu nennen. Denn es ist
eine Frage weit über das brasilianische Problem hinaus, ob das friedliche, sich
selbst bescheidende Leben von Nationen und Individuen nicht wichtiger ist
als der übersteigerte, überhitzte Dynamismus, der eine Nation gegen die
andere zum Wettkampf und schließlich zum Kriege treibt, und ob bei dem
hundertprozentigen Herausholen aller seiner dynamischen Kräfte nicht etwas
im seelischen Erdreich des Menschen durch dieses ständige doping, diese
fiebrige Überhitzung eintrocknet und verdorrt. Der kommerziellen Statistik,
den trockenen Zahlen der Handelsbilanz steht hier etwas Unsichtbares als der
wahre Gewinn gegenüber: eine unverstörte, unverstümmelte Humanität und
ein friedliches Zufriedensein.
Diese erstaunliche Genügsamkeit der Existenzform charakterisiert die
ganze untere Schicht dieses Landes, und es ist eine ungeheure Schicht, eine
dunkle und unabsehbare Masse, die bisher statistisch in ihrer Zahl oder in
ihren Lebensbedingungen nie vollkommen erfaßt werden konnte. Wer in
großen Städten lebt, begegnet ihr kaum. Sie ist nicht gesammelt wie etwa die
amerikanische, die europäische Masse der Besitzlosen in Fabriken oder
Arbeitsstätten, und man kann sie eigentlich nicht Proletariat nennen, weil
diesen versteckten und über das Land hin verstreuten Millionen jede Bindung
untereinander fehlt. Die caboclos des Amazonas, dieseringueiros in den
Wäldern, die vaqueiros auf den großen Weideflächen, die Indios in ihrem oft
104
zurück zum
Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197