Seite - 105 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Bild der Seite - 105 -
Text der Seite - 105 -
unzugänglichen Dickicht sind nirgends zu großen übersichtlichen Siedlungen
vereinigt, und der Fremde (und auch der einheimische Großstädter) weiß
eigentlich wenig von ihrer Existenz. Er weiß nur dunkel, daß irgendwo diese
Millionen sind, und daß sowohl der Bedarf als auch das Einkommen dieser
untersten, fast durchweg farbigen Masse sich an der untersten Grenze des
Lebensniveaus knapp an dem Nullpunkt bewegt. Seit hunderten Jahren hat
sich die Lebenshaltung dieser vielfach gemischten Abkömmlinge der Indios
und Sklaven weder verändert noch verbessert, und wenig von den Leistungen
und Fortschritten der Technik ihr Leben überhaupt erreicht. Die Wohnung
schaffen sich die meisten selbst, eine Hütte oder ein kleines Haus aus
Bambusrohr, mit Lehm beworfen und mit Schilf gedeckt, das sie sich mit
eigener Hand irgendwo erbauen. Gläserne Fenster sind schon ein Luxus, ein
Spiegel oder sonst ein Einrichtungsgegenstand außer Bett und Tisch in diesen
Wohnhütten des inneren Landes eine Seltenheit. Für diese selbstgebaute Hütte
bezahlt man allerdings keine Miete; außer in den Städten stellt Grund und
Boden einen solchen non-valeur dar, daß niemand sich die Mühe nehmen
würde, für ein paar Quadratmeter Entgelt zu verlangen. An Kleidung erfordert
das Klima nicht mehr als eine Leinenhose, ein Hemd und einen Rock. Die
Banane, der Mandioca, die Ananas, die Kokosnuß geben sich von Baum und
Strauch umsonst, ein paar Hühner finden sich leicht dazu und allenfalls noch
ein Schwein. Damit sind die Hauptbedürfnisse des Lebens gedeckt, und
welche geregelte oder gelegentliche Tätigkeit dieser Arbeiter denn verrichtet,
immer bleibt ihm noch etwas für die Zigarette und die anderen kleinen –
allerdings winzig kleinen – Notwendigkeiten seiner Existenz. Daß die
Lebensverhältnisse dieser Unterklasse, besonders im Norden, unserer Zeit
nicht mehr entsprechen, daß bei der geradezu endemischen Armut ganzer
Landstriche die Bevölkerung durch Unterernährung geschwächt und zu einer
normalen Leistung nicht fähig ist, wissen die oberen Stellen längst selbst, und
ununterbrochen werden Maßnahmen erwogen und angeordnet, dieser im
wahrsten Sinne nackten Armut zu steuern. Aber in dieses von Bahnen und
Straßen gleich abgelegene Hinterland, in die Wälder von Mato Grosso und
Acre können die von der Regierung Getúlio Vargas festgelegten
Minimallohnsätze als Norm noch nicht vordringen, Millionen Menschen sind
weder im Sinne einer regulierten, organisierten, kontrollierten Arbeit, noch in
dem der Zivilisation überhaupt erfaßt, und es wird Jahre und Jahrzehnte
dauern, ehe sie dem nationalen Leben tätig eingeordnet werden können. Wie
alle Kräfte seiner Natur, so hat Brasilien auch diese weite und dunkle Masse
weder als Produzent noch als Konsument von Gütern bisher ausgewertet.
Auch sie stellt eine der ungeheuren Reserven der Zukunft, eine der vielen
noch nicht in Leistung umgesetzten potentiellen Energien dieses erstaunlichen
Landes dar.
105
zurück zum
Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197