Seite - 106 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Über dieser im Dunkel verstreuten und amorphen Masse, die – großenteils
analphabetisch und in ihrem Lebensstandard nahe dem absoluten Tiefpunkt –
bisher wenig oder eigentlich gar nichts zur Kultur beitragen konnte, erhebt
sich, stark aufstrebend und ständig in ihrem Einfluß wachsend,
die kleinbürgerliche, die ländliche Mittelklasse: die Angestellten, die kleinen
Unternehmer, die Geschäftsleute, die Handwerker, die vielfältigen Berufe der
Städte und der Fazendas. In dieser durchaus rationalen Schicht prägt sich am
deutlichsten die bestimmte und bewußte brasilianische Eigenheit in einem
unverkennbar persönlichen Lebensstile aus – einem Lebensstil, der viel der
alten kolonialen Tradition nicht nur bewußt aufrechterhält, sondern auch
schon schöpferisch weiterbildet. Es ist nicht leicht, in ihre Existenz
hineinzublicken, denn in der äußeren Haltung fehlt jede Ostentation, diese
Klasse lebt völlig einfach und unauffällig und fast möchte ich sagen, lautlos,
weil drei Viertel der Existenz sich ganz in unserem alten europäischen Stil im
Familienkreis erfüllt. Ein eigenes Haus bildet – außer in Rio de Janeiro und
São Paulo, wo in unseren Tagen die vielstöckigen Häuser eigentlich zum
erstenmal den Typus der Mietswohnung eingeführt haben – die unauffällige
Schale, die den eigentlichen Kern des Daseins, den Familienkreis umschließt.
Es ist fast immer ein kleines Haus mit ein oder höchstens zwei Stockwerken
und drei bis sechs Zimmern, das nach außen ohne Prätention und ohne Zierrat
sich in die Gasse einordnet und innen mit so einfachem Mobiliar eingerichtet
ist, daß für Feste und Gäste kein Raum bleibt. Außer bei drei- oder
vierhundert »oberen« Familien wird man im ganzen Lande kein wertvolles
Bild, kein Kunstwerk auch nur von mittlerem Rang, keine wertvollen Bücher
finden, nichts von der breiten Bequemlichkeit des europäischen Kleinbürgers
– immer wieder ist es in Brasilien die Genügsamkeit, die einem von neuem
auffällt. Da das Haus ausschließlich für die Familie bestimmt ist, versucht es
nicht mit falschem Prunk und kleinen Üppigkeiten zu blenden. Mit Ausnahme
des Radios und des elektrischen Lichts und allenfalls eines Badezimmers ist
heute seine Einteilung nicht anders als in der Kolonialzeit der Vizekönige und
auch die Lebensform in diesem Hause; in der Sitte hat manches
Patriarchalische aus dem anderen Jahrhundert, das bei uns längst – man
bedauert es fast – historisch geworden ist, sich noch in voller Geltung
erhalten: vor allem widerstrebt hier bewußt ein traditioneller Wille der
Auflockerung des Familienlebens und des väterlichen Autoritätsprinzips. Wie
in den alten Provinzen Nordamerikas wirkt auch hier die strengere
Auffassung der Kolonialzeit unbewußt nach; man begegnet hier noch in
voller Geltung, was unsere eigenen Väter in Europa uns von der Welt ihrer
Väter erzählten. Die Familie ist hier noch der Sinn des Lebens und das
eigentliche Kraftzentrum, von dem alles ausgeht und zu dem alles
zurückführt. Man lebt und man hält zusammen; wochentags im engeren
Kreise, versammelt man sonntags den weiteren Kreis der Verwandten;
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197