Seite - 108 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Mittelstand stammt, der sinnfälligste Ausdruck dieser neuen, stark und
energisch aufstrebenden und doch gleichzeitig bewußt traditionellen
Generation.
Über dieser, das ganze Land schon durchdringenden und sich ständig in
ihrem Einfluß steigernden Klasse, die das neue Brasilien repräsentiert, steht –
oder besser gesagt, besteht unentwegt die alte und bedeutend kleinere, die
man die aristokratische nennen möchte, wenn in diesem neuen und durchaus
demokratischen Lande dieses Wort nicht irreführend wirken würde. Denn,
teilweise noch aus der Kolonialzeit stammend, teilweise erst mit König João
aus Portugal herübergekommen, hatten diese vielfach untereinander
verschwägerten – manchmal geadelten, manchmal ungeadelten – Familien
nicht eigentlich Zeit, zu einer aristokratischen Kaste zu erstarren; ihre
Gemeinsamkeit bestand einzig in der Lebenshaltung und der schon seit
Generationen hochentwickelten geistigen Kultur. Vielgereist in Europa oder
von europäischen Lehrern und Gouvernanten herangebildet, zum großen Teil
reich begütert oder in hohen Regierungsfunktionen, haben sie seit dem
Beginn des ersten Kaiserreichs den geistigen Zusammenhang mit Europa
ständig bewahrt und ihren Ehrgeiz daran gesetzt, Brasilien vor der Welt im
Sinne kultivierter und fortschrittlicher Wesensart zu repräsentieren. Aus
diesen Kreisen stammt die Generation jener großen Staatsmänner wie Rio
Branco, Rui Barbosa, Joaquim Nabuco, die auf das glücklichste verstanden,
innerhalb der einzigen Monarchie Amerikas den nordamerikanisch-
demokratischen Idealismus mit dem europäischen Liberalismus zu verbinden
und jene Methode der Konzilianz, der Schiedsgerichte und Verträge, die für
die brasilianische Politik so ehrenvoll ist, auf eine stille und beharrliche Weise
durchzusetzen.
Noch heute ist die Diplomatie fast ausschließlich diesen Kreisen
vorbehalten, während der Verwaltungsdienst und das Militär schon mehr in
die Hände der jungen, aufsteigenden Bürgerklasse überzugehen beginnen.
Aber ihr kultureller Einfluß auf das allgemeine Repräsentationsniveau ist
noch immer wohltätig fühlbar. Auch in ihrer Lebenshaltung fehlt jede
Ostentation. In schönen Häusern mit alten, wundervollen Gärten wohnend,
die sich aber keineswegs als Paläste markieren, meist in den früher exklusiven
Teilen der Stadt, in Tijuca und Laranjeiras oder der Rua Paissandú halten sie
in der Wohnkultur am Traditionellen fest, Sammler von allen historischen
Kunstwerten ihres Landes, und stellen in ihrer gleichzeitigen nationalen
Gebundenheit und geistigen Universalität einen Typus höchster Zivilisation
vor, wie er in den anderen südamerikanischen Ländern fast völlig fehlt, und
der stark an den österreichischen erinnert in seiner Kunstfreundlichkeit und
geistigen Liberalität. Noch sind diese alten Familien – alt meint hier schon
hundert Jahre – in ihrer kulturellen Vorherrschaft nicht verdrängt durch eine
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197