Seite - 110 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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prinzipielle Ansatz zu einem Fortschritt gemacht, der jedoch nur im
Schneckentempo fortschreitet. 1872 errechnet man, daß bei einer
Bevölkerung von über zehn Millionen im ganzen nur 139 000 Kinder die
Schule besuchen, und selbst in unseren Tagen, 1938, sah sich die Regierung
noch vor die Notwendigkeit gestellt, ein eigenes Initiativkommittee zu
gründen zwecks der endgültigen Ausrottung des Analphabetismus.
Der ersehnten Blüte einer eigenen Dichtung und Literatur fehlte also
jahrhundertelang der richtige Humus, in dem sie zu wirklichem Wachstum
gelangen konnte: das einheimische Publikum. Verse zu schreiben, Bücher zu
verfassen bedeutete für einen Brasilianer bis knapp in unsere Zeit einen
materiell aussichtslosen und wirklich heroischen Opferdienst an das
dichterische Ideal, denn sie alle schufen und sprachen, sofern sie nicht dem
Journalismus oder der Politik sich dienstbar machten, völlig ins Leere. Die
großen Massen vermochten ihre Bücher nicht zu lesen, weil sie überhaupt
nicht lesen konnten, und die obere dünne intellektuelle Schicht, die
aristokratische, hielt es für wenig wichtig, ein brasilianisches Buch zu
bestellen, und bezog ihre Lektüre an Romanen und Versen fast ausschließlich
aus Paris. Erst in den letzten Jahrzehnten ist durch den Zustrom
kulturgewohnter und darum kulturbedürftiger Elemente, durch die enorme
Ausweitung der Bildung in der aufsteigenden Mittelklasse hier Wandel
geschaffen worden, und mit der ganzen Ungeduld, wie sie nur lang
zurückgehaltene Nationen haben, dringt die brasilianische Literatur in die
Weltliteratur vor. Das Interesse an geistiger Produktion ist hier erstaunlich.
Buchladen entsteht neben Buchladen, in Druck und Ausstattung verbessert
sich die Herstellung ständig, belletristische und auch wissenschaftliche Werke
können schon Auflageziffern erreichen, die vor einem Jahrzehnt noch als
traumhaft gegolten, und schon beginnt die brasilianische Produktion die
portugiesische zu überflügeln. Mehr als bei uns, wo der Sport und die Politik
in gleich verhängnisvoller Weise die Aufmerksamkeit der Jugend ablenkt,
steht die geistige und künstlerische Produktion im Mittelpunkt des Interesses
der ganzen Nation.
Denn der Brasilianer ist an sich durchaus geistig interessiert. Beweglichen
Intellekts, rasch in der Auffassung und von Natur aus gesprächig, hat er als
Portugiesenenkel die natürliche Freude an schönen sprachlichen Formen, die
sich hier in Brief und Umgang in besonderen Höflichkeiten bewegen und im
Rednerischen gern zum Überschwang neigen. Er liebt zu lesen; selten sieht
man den Arbeiter, den Straßenbahnschaffner in einer freien Minute ohne eine
Zeitung in der Hand, selten einen jungen Studenten ohne ein Buch. Dieser
ganzen neuen Generation ist Schrift und Literatur nicht wie dem Europäer
schon eine jahrhundertealte Selbstverständlichkeit, ein überliefertes Erbe,
sondern etwas selbst Errungenes, und sie finden noch einen Stolz und eine
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197