Seite - 111 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Freude darin, sich selbst und die ganze Weltliteratur zu entdecken. Man
übertreibt nicht, wenn man sagt, daß in diesen südamerikanischen Ländern
mehr als in allen andern noch eine gewisse Ehrfurcht vor der geistigen
Leistung besteht, und daß das zeitgenössische – auch dank der Billigkeit der
Ausgaben – rascher und weiter sich in das Volk verbreitet wie bei den
traditionsgebundenen Nationen. Durch die eingeborene Neigung des
Brasilianers zu zarteren Formen hat die Poesie lange den Vorrang in der
nationalen Literatur gehabt; mit den epischen Gedichten »Uruguai« und
»Marília« beginnt die brasilianische Kultur des Verses, die wirklich
hervorragende Persönlichkeiten zeitigt. Ein Lyriker kann hier noch wirklich
populär werden. In allen Parks findet man wie im Parc Monceau und
Luxembourg in Paris die Statuen der nationalen Dichter aufgestellt, und sogar
einem lebenden, Catulo da Paixão Cearense, hat die Bevölkerung – oder
vielmehr das wirkliche Volk durch gemeinsame Sammlung von kleinen
Silbermünzen – diese rührende Huldigung erwiesen. Noch ehrt, als eines der
letzten, dieses Land das Gedicht, und die brasilianische Akademie
versammelt heute eine stattliche Anzahl von Poeten, die der Sprache neue und
persönliche Nuancen gegeben.
Länger dauert die Emanzipation von den europäischen Vorbildern in der
Prosa, im Roman und in der Novelle. Selbst die Entdeckung des »guten
Indios« in dem »Guarani« von José de Alencar war eigentlich nur ein
Rückimport ausländischer Vorbilder wie Chateaubriands »Atala« oder
Fenimore Coopers »Lederstrumpf«; bloß die äußere Thematik in
seinen Romanen, nur ihr historisches Kolorit ist brasilianisch, nicht aber die
seelische Einstellung; die künstlerische Atmosphäre.
Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts tritt mit zwei
wahrhaft repräsentativen Gestalten, mit Machado de Assis und Euclides da
Cunha Brasilien in die Aula der Weltliteratur ein. Machado de Assis bedeutet
für Brasilien, was Dickens für England und Alphonse Daudet für Frankreich.
Er hat die Fähigkeit, lebendige Typen, die sein Land, sein Volk
charakterisieren, lebendig zu erfassen, ist ein geborener Erzähler, und die
Mischung von leisem Humor und überlegener Skepsis gibt jedem seiner
Romane einen besonderen Reiz. Mit seinem »Dom Casmurro«, dem
populärsten seiner Meisterwerke, hat er eine Figur geschaffen, die für sein
Land so unsterblich ist wie David Copperfield für England und Tartarin de
Tarascon für Frankreich; dank der durchsichtigen Sauberkeit seiner Prosa,
seinem klaren und menschlichen Blick stellt er sich den besten europäischen
Erzählern seiner Zeit zur Seite.
Im Gegensatz zu Machado de Assis war Euclides da Cunha kein
Schriftsteller von Profession; sein großes nationales Epos, die »Sertões«, ist
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197