Seite - 115 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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zweiterster Stelle in dieser hervorragendsten undheroischsten Tat unserer
neuen Welt steht, und dies ist genug, um seinen Namen für alle Zeiten in die
Ehrentafel der Geschichte einzugraben. Sein Leben ist in sich selbst ein
großartiges episches Gedicht des Wagemuts und der Selbstverleugnung, und
unvergeßlich wie seine technische Tat werden die Taten seiner Menschlichkeit
sein, jene beiden Briefe, die er verzweifelt an den Völkerbund richtete, damit
dieser ein für allemal die Verwendung des Flugzeugs zu Bombenabwurf und
anderen kriegerischen Grausamkeiten verbiete. Mit diesen beiden Briefen
allein, welche die humanitäre Gesinnung seines Vaterlands vor der ganzen
Welt proklamierten und verteidigten, hat sich seine Gestalt für alle Zeiten
gegen jedes undankbare Vergessen geschützt.
Setzt man also in die Bilanz die richtigen Zahlen ein, so ist die kulturelle
Leistung Brasiliens heute schon eine außerordentliche. Richtig aber rechnet
man nur, sofern man das kulturelle Alter dieses Landes nicht mit
vierhundertfünfzig Jahren und die Zahl seiner Bevölkerung mit fünfzig
Millionen einstellt. Denn Brasilien zählt seit seiner Unabhängigkeit nicht viel
mehr als hundert, genauer hundertneunzehn Jahre, und von seiner
Bevölkerung nehmen heute noch kaum mehr als sieben oder acht Millionen
an modernen Lebensbedingungen produktiv teil. Ebenso führt jeder Vergleich
mit Europa ins Leere. Europa hat unermeßlich mehr Tradition und weniger
Zukunft, Brasilien weniger Vergangenheit und mehr Zukunft, alles Geleistete
ist hier ein Teil des noch zu Leistenden, vieles, was Europa der
jahrhundertealte Grundstock als selbstverständlich gewährt, ist hier noch
aufzubauen, die Museen, die Bibliotheken, der durchgreifende
Bildungsapparat; noch hat es der junge Künstler, der junge Schriftsteller, der
junge Gelehrte, der Student hier hundertmal schwerer als in den besser
dotierten und besser organisierten Lehranstalten Nordamerikas, sich
Überblick und universelle Kenntnisse anzueignen. Noch spürt man hier
manchmal eine gewisse Enge und anderseits Ferne von den aktuellen
Bemühungenunserer Zeit, noch ist das Land nicht seiner eigenen Proportion
entsprechend entwickelt, noch wird jeder Brasilianer ein Jahr Europa oder
Nordamerika als die richtige letzte Stufe seiner Studien empfinden, noch hat
Brasilien trotz allen und allen unseren Torheiten von unserer alten Welt
Auftrieb und Antrieb zu empfangen.
Aber anderseits hat auch der Europäer, der zu kürzerem oder längerem
Besuch landet, schon viel hier zu lernen. Er begegnet einem anderen
Raumgefühl, einem anderen Zeitgefühl. Der Spannungsgrad der Atmosphäre
ist ein geringerer, die Menschen freundlicher, die Kontraste weniger
vehement, die Natur näher, die Zeit nicht so überfüllt, die Energien nicht so
bis zum letzten und äußersten gespannt. Man lebt hier friedlicher, also
menschlicher, nicht so maschinell, nicht so standardisiert wie in Amerika,
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197