Seite - 118 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Bild der Seite - 118 -
Text der Seite - 118 -
Es gibt – wer sie einmal gesehen, wird mir nicht widersprechen – keine
schönere Stadt auf Erden, und es gibt kaum eine unergründlichere, eine
unübersichtlichere. Man wird nicht fertig mit ihr. Schon das Meer hat in
einem sonderbaren Zickzack die Strandlinien gezogen und das Gebirge ihr in
den Raum der Entfaltung steile Hänge geworfen. Überall trifft man auf Ecken
und Kurven, alle Straßen schneiden sich in unregelmäßigen Formen,
unablässig verliert man die Richtung. Wo man zu Ende zu sein glaubt, stößt
man auf einen neuen Anfang, wo man eine Bucht verlassen, um in den Kern
der Stadt zu dringen, gelangt man überrascht an eine andere Bucht. Auf jedem
Weg entdeckt man etwas Neues, einen überraschenden Durchblick von den
Hügeln, einen kleinen, wie aus der Kolonialzeit vergessenen Platz, einen
Markt, einen palmenbestandenen Kanal, einen Garten, eine favela. Wo man
hundertmal vorbeigegangen, findet man, wenn man aus Versehen eine
Nebengasse nimmt, sich in einer anderen Welt: es ist, als ob man auf einer
Drehscheibe stünde, die einen ununterbrochen zu anderen Ausblicken bringt.
Dazu kommt noch, daß sich die Stadt mit einer radikalen Geschwindigkeit
von Jahr zu Jahr, ja von Monat zu Monat verändert. Jemand, der ihr einige
Jahre ferngeblieben, braucht geraume Zeit, um sich wieder zurechtzufinden.
Man will einen Hügel hinauf, wieder einmal die alten romantischen Quartiere
mitten in der Stadt zu sehen, und findet ihn nicht: er ist einfach abgeräumt,
und ein mächtiger Boulevard, rechts und links von zwölf Stock hohen
Häusern flankiert, durchquert die alte Stelle. Wo ein Felsen den Weg sperrte,
ist jetzt ein Tunnel, wo das Meer zutraulich bis an den Strand kam, ein
Flugplatz weit ins Meer gebaut, wo man vor drei Monaten noch an einer
abgelegenen Küste im leeren weichen Sand hinstapfte, steht eine ganze
Villenkolonie; all das geht hier mit traumhafter Geschwindigkeit. Überall
geschieht etwas, überall ist Farbe, Licht und Bewegung, nichts wiederholt
sich, nichts paßt zusammen, und doch paßt alles zusammen.
Spazierenschlendern – in anderen Großstädten unergiebig und kaum mehr
möglich – ist hier noch eine Lust und eine tägliche Entdeckungsfreude. Wo
immer man sich befindet, überall wird dem Blick eine Wohltat getan. Man
geht zu einem Freunde und schaut im Gespräch vom sechsten Stock zufällig
aus dem Fenster: breit und majestätisch, wie man sie nie gesehen, breitet sich
die Bucht mit ihren schimmernden Inseln und gleitenden Dampfern vor einem
aus. Man tritt in derselben Wohnung in ein rückwärtiges Zimmer, und fort ist
das Meer, aber entgegen glüht einem das Kreuz des Corcovado und die
dunklen Gestalten der Sterne. Stundenweit glänzen die Lichter der Straße,
und zugleich sieht man, wenn man sich vom Balkon vorbeugt, unten in ein
Negerdorf mit kleinen Hütten und farbigen Lichtern hinein. Man will zur
Stadt fahren, und der Weg geht quer über einen Berg; jeden Augenblick bittet
man den Freund, der den Wagen chauffiert, anzuhalten, um einen andern
überraschenden Ausblick nicht zu versäumen. Man will in ein Vorstadtviertel,
118
zurück zum
Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197