Seite - 119 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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um sich dort an den bunten kleinen Läden zu erfreuen, und findet
sich plötzlich zwischen großen feudalen Palacetes mit hundertjährigen
Gärten. Man fährt bei Santa Teresa mit der Tram den Berg hinauf, um ganz in
der einsamen Natur zu sein, und ist plötzlich auf einem Aquädukt aus dem
achtzehnten Jahrhundert und ein paar Minuten später inmitten einer Gruppe
steiler Mietshäuser. In einer Viertelstunde kann man vom funkelnden Ufer des
Meers auf einer Bergspitze sein, in fünf Minuten aus einer Luxuswelt in der
primitivsten Armut der Lehmhütten und wieder mitten im kosmopolitischen
Getriebe von blitzenden Cafés und zwischen einem Malstrom von
Automobilen – alles geht hier durcheinander, ineinander, kreuz und quer, arm
und reich und neu und alt, Landschaft und Kultur, Hütten und Wolkenkratzer,
Neger und Weiße, altväterische Lastkarren und Automobile, Strand und Fels
und Grün und Asphalt. Und all das glänzt und glüht in denselben vollen und
blendenden Farben, schön das eine und schön das andere, beides immer neu
durchmischt und immer faszinierend. Nie wird man müde, nie hat man genug.
Nie hat man das volle Profil der Stadt erfaßt, denn sie hat Dutzende, nein
Hunderte. Sie ist immer anders von jeder Seite, von jeder Fläche, von jeder
Perspektive, anders von innen, von außen, von oben, von unten, vom Berg,
vom Meer, von der Straße, vom Flugzeug, von der Fähre, anders von jedem
Haus und anders von jedem einzelnen Stockwerk und jedem Zimmer dieses
Hauses. Wer von Rio kommt, dem scheinen in allen anderen Städten dann alle
Farben ohne Leuchtkraft, die Menschen auf der Straße monoton, das Leben
zu ordentlich, zu einheitlich. Alles nach dem ist Ernüchterung, Abschattung
nach diesem Rausch von Farben und Formen, nach der göttlichen Vielfalt
dieser Stadt.
Man kann leben in Rio, wie man will. Der Gedanke ist verführerischer als
anderswo, hier reich zu sein, in einem dieser von Parks umschlossenen
Traumhäuser auf den Hügeln von Tijuca zu wohnen, und es ist doch
gleichzeitig leichter hier, arm zu sein, als in einer anderen Großstadt.
Das Meer ist frei für das Bad, die Schönheit frei für jeden Blick, die kleinen
Notwendigkeiten des Daseins billig, die Menschen freundlich und
unerschöpflich die Vielfalt jener kleinen täglichen Überraschungen, die einen
glücklich machen, ohne daß man wüßte warum. Etwas Weiches und
Entspannendes liegt hier in der Luft, das einen weniger kämpferisch,
vielleicht auch weniger energisch sein läßt. Immer ist man hier der
Empfangende in Schauen und Genießen, und unbewußt kommt einem von
dieser Landschaft eine geheimnisvolle Tröstung wie immer von dem Schönen
und Einmaligen auf Erden zu. Nachts mit ihren Millionen Sternen und
Lichtern, tags mit ihren hellen und grellen, ihren heißen und explodierenden
Farben, in der Dämmerung mit ihrem leisen Nebel und Wolkenspiel, in ihrer
duftenden Schwüle und in ihrem tropischen Wetterguß, immer ist diese Stadt
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197