Seite - 125 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Läden, die Armazéns mit ihren Warenlagern offen, man blickt frei auf die
aufgestapelte Ware, und meist riecht man sie schon zuvor, denn diese engen
Gassen um den Hafen, die letzten unveränderten aus der Kolonialzeit,
schwelen von einem fettig warmen Dunst von Fischen, Obst und Gemüsen.
Es bedürfte nicht der ausgezeichneten Schilderungen Luís Edmundos in
seinem Buch über Rio zur Zeit der Vizekönige, um zu ahnen, wie schauerlich
verpestet und stickig diese engen Durchlässe gewesen sein müssen in einer
Zeit, da Menschen und Vieh gemeinsam die Gasse bevölkerten und die
primitivsten Gesetze der Hygiene noch nicht beachtet wurden. Auch die
wenigen öffentlichen Gebäude aus den Zeiten der Kolonie, die Palais und
Kasernen, sind hastig und billig ohne Plan und Ambition gebaut und stellen
bestenfalls wohlfeile Kopien der portugiesischen dar. Jedes sentimentale
Klagen um das »alte Rio« ist also eigentlich nur Angelegenheit von ein paar
alten Leuten, die unbewußt ihre eigene Jugend beklagen. In Wirklichkeit hat
Rio mit allem, was es wegräumte, wenig oder nichts verdorben. Von der
Kolonialzeit verdienen einzig ein paar Kirchen, vor allem die wunderbar
gelegene der Glória und São Francisco sowie der Aquädukt mit seinen nobel
geschwungenen Linien geschützt zu werden und allenfalls als Wahrzeichen
die eine oder die andere dieser kleinen farbigen Gassen. Denn ein großes
Denkmal seiner Vergangenheit ist als Wahrzeichen unvergänglich: die Kirche
und das Kloster von São Bento.
Diese Kirche von São Bento hat sich vom Wandel der Jahrhunderte
gerettet, indem sie sich tapfer und einsam vom ersten Tage an auf einem
Hügel verschanzte; so blieb dieses Bauwerk, 1589 begonnen, das einzige
imposante Denkmal des sechzehnten Jahrhunderts, und vergessen wir nicht:
ein Kunstwerk aus dem sechzehnten Jahrhundert ist für die neue Welt so alt
wie für uns der Parthenon und die Pyramiden. Allein auf seiner Höhe, den
Blick noch nicht verstellt von den Hochhäusern zu seiner Tiefe, frei nach
allen Seiten schauend, bedeutet es ein wundervolles Stück Schönheit und
Stille in dieser unruhig vordrängenden, mit Farbe und Lärm dröhnenden
Stadt. Hier allein ist die Zeit in Rio stillgestanden, hier allein hat sein
ungeduldiger Erneuerungswille nichts zu ändern vermocht. Noch ist die alte
holprige Straße, die den Berg hinaufführt, dieselbe, die vor dreihundert Jahren
die Pilger emporwanderten, und von derselben Terrasse, von der man früher
die Galeonen Portugals und die schmalen Segelschiffe landen sah, blickt man
jetzt auf die großen Ozeanriesen, die langsam und majestätisch ihre Bahn
ziehen.
Von außen wirkt São Bento mit seinem angrenzenden Kloster zunächst
weder sonderlich imposant noch eigenartig. Es ist ein solider breiter Bau mit
schweren runden Türmen, das Kloster in seiner viereckigen Form eher einer
Festung ähnlich, und tatsächlich hat es in Kriegszeiten als solche gedient.
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197