Seite - 132 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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es klingen mag, jedoch mit diesen fünf Minuten von Rio nach Rio befindet
man sich an einem völlig anderen Meer, in einer anderen Luft, in einer
anderen Temperatur, als wäre man stundenweit gefahren. Und was man am
Strande von Flamengo und der Avenida Beiramar gesehen, war wirklich ein
anderes Meer, weil nur das Wasser der völlig umschlossenen Bucht, das Meer
allerdings, aber ein gebändigtes, gefesseltes, geschwächtes Meer, das keine
Kraft mehr hat zu wilden Wellen und trotz aller Breite und Weite keine
deutliche Flut und Ebbe mehr aus sich zu holen vermag. Hier aber in
Copacabana steht plötzlich die umsprühte, vom Wind umschlagene Stirn
gerade gegenüber dem Atlantischen Ozean, und man weiß und fühlt, daß
tausende Meilen weit bis hinüber nach Europa und Afrika nichts vor einem
liegt als dies gewaltige Meer. Mächtig, grünschäumend wirft sich die Flut,
Poseidons Gespann, mit den weißen Mähnen seiner Wasserrosse gegen den
riesig breiten, helleuchtenden Strand. Der Donner umbraust einem die Ohren,
und so stark ist dieser anprallende Schlag, so mächtig der Atem des
Atlantischen Riesen, daß die verstäubte Luft dampft von Jod und Salz. So
stark und durchsättigt ist sie von Ozon, daß, verwöhnt von der sonst weichen
und ein wenig schwülen Atmosphäre, viele Menschen es gar nicht vertragen
können, an dieser ewig donnernden, ewig sprühenden Küste zu wohnen. Aber
wie erfrischend darum! Mit fünf Minuten Fahrt ist es vier oder fünf Grad
kühler geworden, und auch dies gehört zu den hundert Geheimnissen dieser
Stadt, die nur der lang Ansässige wirklich meistert, daß hier von Ecke zu
Ecke die Temperaturen sich merklich unterscheiden, daß im selben
Wohnviertel die rückwärtige Straße heißer sein kann und die vordere kühl, die
rechte windig und die linke windstill, nur weil sie in einem bestimmten
Winkel zur Meerbrise liegt, oder weil andererseits diese Brise durch einen
Bergvorsprung gehemmt wird. So ist zum Beispiel der Anfang von
Copacabana, der Leme heißt, nicht so beliebt und nicht so fashionabel und
kostspielig, obwohl er nur einen Kilometer weit entfernt liegt und scheinbar
die gleiche Front zum Meere hat. Die Avenida Atlântica aber, die Front von
Copacabana, ist der Luxusstrand. Er hat ein berühmtes Hotel, die obligaten
Cafés, mit Zigeunermusik, ein Spielkasino und die breite Promenade, er hat
seine eigenen – und darum etwas unbrasilianischen – Sitten. Hier allein sieht
man wie in den europäischen und nordamerikanischen Sommerstationen
Mädchen in Hosen, Männer in bloßem Sporthemd (was sonst streng verpönt
ist und einem sogar den Einlaß in einen Autobus verunmöglicht). Hier sitzt
man im Freien in Restaurants und Cafés. Es gibt keine Geschäfte, keine
Lastwagen, denn dieser Strand will allein dem Luxus, dem Vergnügen, dem
Sport, der Promenade, den Farben, der Körperlust und Augenlust gehören. Er
ist im letzten gewissermaßen die Luxuskabine für das gigantische Bad an dem
riesigen Strande, der an manchen Tagen hunderttausend Menschen
zusammenholt, ohne deshalb überfüllt zu sein. Manchmal hat man das
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197