Seite - 142 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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fünfzehnhundert Frauen aller Rassen und Farben, jeden Alters und jeder
Herkunft, senegalische schwarze Negerinnen neben Französinnen, die ihre
Altersrunzeln kaum mehr überschminken können, zarte Inderinnen und feiste
Kroatinnen auf die Kunden, die in unaufhörlichem Zug vor diesen Fenstern
vorüberspähen, um die Ware zu prüfen. Hinter ihnen schimmert in bunten
Farben die Ampel und erhellt mit magischen Reflexen den rückwärtigen
Raum, in dem sich das hellere Bett aus den Schatten hebt, ein
rembrandtisches clair-obscur, das diesen täglichen und überdies erschreckend
billigen Betrieb beinahe mystisch macht. Aber das Überraschendste, das
zugleich Brasilianische bei diesem Markte ist die Stille, die Gelassenheit, die
ruhige Disziplin; während in den Gassen von Marseille, von Toulon in
solchen Straßen alles dröhnt von Lachen, Geschrei, Hochrufen und
tollgewordenen Grammophonen, während die betrunkenen Gäste dort wild
und gefährlich durch die Gassen gröhlen, bleibt hier alles bildhaft und leise.
Ohne sich zu schämen, mit südländisch-ehrlicher Unbefangenheit wandern
die jungen Leute an diesen Türen vorbei, um manchmal wie ein rascher Strahl
Licht in ihren weißen Anzügen dort zu verschwinden. Und über all diesem
stillen, heimlichen Geschehen steht der Himmel mit seinen Sternen; auch
dieser abseitige Winkel, der sich in anderen Städten, seines Geschäfts
irgendwie schamvoll bewußt, in die häßlichsten und verfallensten Quartiere
drückt, hat in Rio noch Schönheit und wird ein Triumph der Farbe und des
vielfältigen Lichts.
Werden wirklich auch die alten bondes, die offenen Trambahnen
verschwinden und durch geschlossene »moderne« Wagen ersetzt werden? Es
wäre unermeßlich schade, denn sie geben den Straßen einen sausenden,
schmetternden Glanz. Welch ein Anblick, dessen man nie müde wird, diese
überfüllten offenen Wagen, wo an den Trittbrettern die Männer wie Bündel
weißer Trauben überhängen! Und nachts, wenn sie fahren, das Licht innen
ergossen über die schwarzen, braunen, hellen Gesichter – es ist immer, als ob
ein Blumenbouquet farbig vorbeigeschleudert würde! Und wie angenehm, in
ihnen zu fahren! An den heißesten, den schwülsten Tagen kauft man sich in
ihnen für einen Cent die schönste, die erfrischendste Brise und sieht dabei –
im Gegensatz zu den Sargkästen der geschlossenen Automobile – rechts und
links in die Straße, in die Geschäfte, in das Leben hinein. Nirgends kann man
besser Rio, das wirkliche Rio erforschen, nicht im Cookautomobil und im
Privatwagen, als in diesem Gefährt des kleinen Volkes; nur dank
derbondes (sowie meiner Beine) glaube ich heute Rio wirklich zu kennen.
Und ich brauche mich dieser Vorliebe nicht zu schämen, denn auch der Kaiser
Dom Pedro II. liebte diese in ihren Gleisen scharf hinschmetternden,
altmodischen Wagen so sehr, daß er sich einen eigenen zu seinen
demokratischen Spazierfahrten reservierte. Welcher Fehler, wollte man diese
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197