Seite - 150 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Bild der Seite - 150 -
Text der Seite - 150 -
hastig – dahinzuschlendern. Schwerer erträglich sind die Nächte, wenn diese
Brise stockt und man die Feuchte, die Dicke, die Überfülltheit der
Atmosphäre so dicht an die Haut drängen fühlt, daß sie mit allen Poren sich
öffnet. Aber im allgemeinen dauern diese drückenden Tage nicht lang, und es
macht ein Gewitter ihnen ein jähes Ende, ein Tropengewitter von jener
Gewalt, die mir die Schilderungen Joseph Conrads glaubhaft illustriert haben.
Das ist nicht Regen, der dann niederprasselt, das ist der ganze Himmel, der
wie ein umgeworfenes Faß mit einem Male niederstürzt. Das sind keine
Blitze, die wie bei uns als blaue Adern am Himmel aufspringen – das sind
weiße Schüsse, und der Donner, der ihnen nachfällt, erschüttert die Häuser.
Eine Viertelstunde, und die Straßen sind meterhoch überschwemmt, aller
Verkehr stockt, kein Mensch wagt sich auf die Straße. Und wieder eine
Viertelstunde, und der Himmel schimmert unschuldig im früheren Blau, als
ob er von seinem Wutanfall nichts wüßte, das Licht glänzt scharf und klar
durch die gefilterte Luft, und man atmet erstaunt und entlastet, wie nach einer
Explosion, der man durch ein Wunder entkommen. Und dann wieder Tag um
Tag strahlende Sonne, wolkenloser Horizont – so ist der Sommer in Rio.
In summa: er ist erträglich. Und zwei Millionen Menschen ertragen ihn,
ohne zu klagen und sogar vergnügt. Sie passen sich ihm nur an. Alles trägt
Leinenkleider, die ganze Stadt funkelt in Weiß wie bei einer Marineparade,
und vom November an wird Rio ein einziger Badestrand; zwei, drei Straßen
vom Ufer her – und fast überall ist Ufer – gehen die Leute in Schwimmhosen
und Badekostümen, um rasch ein- oder zweimal des Tags den erfrischenden
Sprung ins Meer zu tun; um fünf Uhr morgens, ehe sie frühstücken oder zur
Arbeit gehen, rücken die ersten an, und das geht bis tief in die Nacht, an
manchen Tagen sind an dem einen Strand von Copacabana hunderttausend
Menschen zu finden. Nichts irriger als zu glauben, die Cariocas, die Leute
von Rio, würden durch den Sommer erschöpft und ausgelaugt: im Gegenteil,
es ist, als sammelte sich in ihnen diese aufgestaute Hitze zu einem einzigen
impulsiven Ausbruch, der dann mit kalendarischer Regelmäßigkeit im
Karneval erfolgt. Der Karneval von Rio ist, man weiß es, ein Unikum an
heiterem und leidenschaftlichem Überschwang in unserer seit Jahren reichlich
verdüsterten Welt. Monatelang zuvor wird gespart und geübt, denn jeder
Karneval bringt neue Lieder und Tänze. Und da der Karneval ein
demokratisches Fest hier ist, ein Lustausbruch, eine
Temperamentsmanifestation des ganzen Volks, hört man diese Lieder schon
überall vorausgeübt, damit jeder einstimmen könne; man hört sie in den
Kasinos, den Restaurants, im Radio, im Grammophon und in den
Negerhütten; überall wird geübt und exerziert zu der großen Parade der
kollektiven Freude. Wenn der Kalender dann endlich die Verstattung gibt,
schließen für drei Tage alle Geschäfte, und es ist, als sei die ganze Stadt von
150
zurück zum
Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197