Seite - 168 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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ohne Viehzucht und ohne Vegetation. Ein wüstes Treiben hebt an, denn noch
ist keine Autorität zur Stelle, das Gesetz zu verteidigen; leider fehlt uns der
richtige literarische Augenzeuge, der brasilianische Bret Harte, um das
Phantastische dieses ersten wildesten Tumults zu schildern, aber er muß
ohnegleichen gewesen sein. Die paulistas, die ersten Entdecker, kämpfen
gegen die emboabas, die fremden Eindringlinge. Nach ihrer Auffassung
gehört ihnen das Gold allein als Lohn für die unzähligen Expeditionen, die
ihre Väter, ihre Brüder vergeblich von São Paulo aus unternommen. Sie
werden besiegt, aber das schafft keinen Frieden. Wo Gold ist, herrscht
Gewalt. Mord, Raub, Diebstahl mehren sich von Stunde zu Stunde, und
verzweifelt ruft der Priester Antonil in seinem ersten Bericht (1708) aus:
»Kein vernünftiger Mensch kann einen Zweifel hegen, daß Gott in den Minen
nur darum so viel Gold entdecken ließ, um damit Brasilien zu strafen.«
Zehn Jahre und mehr herrscht in diesem verlassenen Gebirgstal ein
vollkommenes Chaos. Endlich greift die portugiesische Regierung ein, um
sich selbst ihren Anteil an dem Gold zu sichern, das diese zuchtlosen
Abenteuerer entweder verschwenden oder auf Schleichwegen aus dem Lande
schaffen. Ein Gouverneur, der Conde de Assumar, wird über die
neue capitania eingesetzt und rückt mit Fußtruppen und Dragonern an, um
die Autorität der Krone zu wahren. Eine seiner ersten Maßnahmen ist, daß,
um eine genaue Kontrolle zu sichern, kein Staubkorn Gold mehr aus der
Provinz geschafft werden darf. Alles Gold muß zunächst an das Schmelzhaus,
das er 1719 errichtet, abgeliefert werden, in dem die Regierung gleichzeitig
den ihr gesetzlich zustehenden Anteil – ein Fünftel alles gefundenen Goldes –
sofort in Abzug bringen kann. Aber den Goldgräbern ist jede Art Kontrolle
verhaßt. Was kümmert sie in ihrer Wildnis der König von Portugal? Unter
Führung Filipe dos Santos rotten sich zweitausend Männer, die ganze weiße
oder halbweiße Bevölkerung von Vila Rica, zusammen und bedrohen den
Gouverneur, der – von der unvermuteten Revolte völlig überrascht – den
Aufrührern in einem aufgenötigten Vertrag alle Forderungen bewilligt. Aber
heimlich zieht er zugleich seine Truppen zusammen und überfällt nun
seinerseits die Aufständischen nachts in ihren Häusern. Der Aufrührer wird
gevierteilt, ein Teil der Ortschaft niedergebrannt und von nun ab mit den
strengsten und sogar grausamsten Methoden Ordnung in Minas Gerais
erzwungen. Langsam beginnen sich inmitten des arbeitenden, schöpfenden,
tragenden, schüttelnden Ameisenhaufens von Sklaven und Goldwäschern aus
erbärmlichen Lehmhütten und flüchtig gezimmerten Zelten die Konturen
einer wirklichen Stadt abzuzeichnen. Um den Palast des Gouverneurs, das
Schmelzhaus und das nicht minder zur geordneten Verwaltung wichtige
Gefängnis ordnen sich steinerne Häuser, enge Straßen umschließen den
Hauptplatz; allmählich erheben sich die Kirchen, und zugleich mit dem
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197