Seite - 176 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Kunstwerk oder zumindest zu Kunstwirkung erlöst.
Auch die andern – zum Teil namenlosen – Künstler jener Kirchen hatten
unermeßliche Schwierigkeiten zu überwinden. Es waren nicht die Quadern
zur Stelle, um den Gebäuden die volle Wucht zu verleihen, nicht der Marmor,
nicht die Werkzeuge, um ihn zu behauen; aber sie hatten das Gold, und sie
hatten es im Überfluß. Sie konnten die hölzernen Balustraden, die Rahmen,
das Schnitzwerk aufleuchten lassen in dem kostbaren Erz, und so strahlen
diese Altäre in schimmerndem Glanz. Man kann es sich denken, wie die
ersten Ansiedler, die in kümmerlichen Hausungen wohnten, die kaum ein Bett
hatten und nichts außer ihrem Kleid, ihrem Dolch und ihrem Spaten, stolz
waren, daß plötzlich diese weißen Kirchen mit aller Pracht der Bilder und
Werke ihnen eine Ahnung von überirdischer Schönheit in ihr wildes und
zügelloses Leben brachten. Bald wollten auch die schwarzen Negersklaven
nicht zurückstehen. Auch sie wollten ihre Kirchen, in denen die Heiligen
dunkelfarben sein sollten wie sie selbst, und sie brachten ihre geringen
Ersparnisse, sich gleichfalls eine solche Herrlichkeit zu erbauen. So entstand
auf dem anderen Flügel von Ouro Preto die Kirche Santa Ifigenia, gestiftet
von »Chico Rei«, einem Negersklaven, der in Afrika Fürst seines Stammes
gewesen und durch besonders glückliche Goldfunde sich und die Sklaven
seines Stammes freigekauft. Dieser Kranz von Kirchen leuchtet heute mitten
im einsamen Bergland und über den verschollenen Städten ein einziger
Anblick und ein wahrhafter Augentrost. Denn was der Fluß in ewiger Mühe
herangeschwemmt, was die dunklen Berge von ihren Schätzen, den längst
noch nicht ganz gehobenen, gegeben, hat sich in den edelsten und
dauerhaftesten Wert dieser Erde verwandelt: in Schönheit. Längst sind die
Städte, die Siedler verschwunden aus diesen wieder vereinsamten Tälern, aber
die Kirchen sind geblieben als Wächter und Zeugen vergangener Größe. Ouro
Preto, in seiner düsteren Verfallenheit das Toledo Brasiliens, und Congonhas,
lieblicher gelegen und von milden Palmen gekrönt, sein Orvieto oder Assisi,
haben der Zeit Trotz geboten, indem sie die Vergangenheit treu bewahrten.
Mit Recht hat sich Brasilien entschlossen, dies kostbare Vermächtnis
unversehrt als »nationales Denkmal« zu erhalten, um so mehr als Ouro Preto
auch in seiner nationalen Geschichte durch die Verschwörung
der Inconfidência Mineira ein Ort der Pilgerschaft geworden ist. Diese Städte
gesehen zu haben, ist ein Erlebnis besonderer Art und nicht bloß eine Augen-
und Seelenfreude. Denn geheimnisvoll fühlt man an ihrer eigentlich
unverständlichen Existenz die vielfältige Magie dieses gelben Metalls, das
Städte in die Wildnis stellt, in den wüstesten Freibeutern Sehnsucht nach
Kunst erregt, das hier wie immer die guten Instinkte anreizt wie die
schlimmen, und, selber kalt und schwer, in dem Blut und den Sinnen der
Menschen die heißesten und heiligsten Träume erregt – dieses
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197