Seite - 187 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Bevölkerung will ihn sehen. Aber es ist ein richtiger Festzug des Volkes, nicht
wie in Nizza heute der Karneval ein von Geschäftsleuten zu Reklamezwecken
und vom Touristenbüro subventionierter; nichts rührender als eine
Primitivität. Auf dem Platz vor dem Markte versammelt sich morgens die
ungeduldige Menge zum Ausmarsch: und schon stehen die Lastautos vom
Markt, die kleinen Eselskarren, die mit den billigsten Mitteln festlich drapiert
werden, erwartungsvoll geschart. Ach, wie rührend primitiv ist dieser
Schmuck! Dem Pferd wird die Spitzendecke vom häuslichen Bett
umgeworfen, dem Lastwagen mit rotem, grünem, gelbem Seidenpapier die
Räder umwickelt, dem Eselchen die Hufe mit Silberfarbe manikürt, den
Fäßchen für die Waschung – ganz gewöhnliche Fäßchen vom Markt – mit
goldenem Anstrich ein prunkvolles Ansehen gegeben; die ganze Ausstattung
des Festzuges mag zehn Dollar schlimmstenfalls kosten. Aber doch wird es
farbig und imposant durch die Bahiafrauen, die in frommem Eifer die Krüge
mit Blumen und die Fäßchen auf ihrem Haupt in der scharfen Sonne mit ihrer
herrlichen Hoheit den ganzen langen Weg tragen. Prachtvoll sehen sie aus,
diese schwarzen Königinnen, die sich zu ihrer farbigen Tracht für den
festlichen Tag da noch ein Spitzentuch und dort noch eine klirrende Halskette
geliehen haben, glücklich strahlend jede einzelne, mit ihrem frommen Gang
zugleich dem Heiligen und der Freude des Volkes zu dienen. Auf
Leiterwagen, auf ganz vorweltlichen Gespannen sitzen die jungen Burschen,
die Besen stolz wie Gewehre schulternd, und unablässig übt sich eine
mißtönende, ungeschulte Blechmusik; aber das alles glänzt und quirlt in dem
lodernden Licht, und rückwärts blaut das Meer und zu Häupten der Himmel.
Es ist ein Fanal der Farben und der Heiterkeit.
Endlich – mit der üblichen brasilianischen Verspätung setzt sich der Zug in
Bewegung. Er marschiert, die Frauen in langer Reihe, mit ihren Krügen zu
Häupten, voran, sehr langsam durch die Stadt, denn alles will den Zug sehen.
Von den Türen, von den Fenstern winkt und jubelt es viva o Senhor do
Bomfim, die alten Leute haben sich ihre paar armen Strohstühle aus den
Wohnungen auf die Straße gestellt, um nur nichts zu versäumen – für diese
Genügsamsten der Welt, für das brasilianische Volk, ist ja ein Anblick schon
ein Fest. Da dieser Zug mit den steil getragenen Krügen, aus denen kein
Tropfen verschüttet werden soll, fast zwei Stunden dauert, waren wir in die
Kirche vorausgefahren, um ihn dort zu erwarten. Aber schon war die Kirche
voll. Frauen, Männer, unzählige schwarze lachende Kinder drängten dort in
Erwartung des Fests, einer an den andern gepreßt; hoch oben die Fenster, die
Sakristei, die Stufen, alles war schon überflutet von wolligen Köpfchen und
zitternd vor Erwartung. Aber – ich begriff es erst später – gerade diese
Erwartung steigert bei diesen Leichterregbaren Spannung zu einer Art
sinnlicher Lust, und als ein erster Böllerschuß meldete, daß an einer Biegung
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197