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339Schluss
zudem die Frage auf: Was genau wird eigentlich bewahrt, wenn eine Webseite nur
für den Archivcrawler erzeugt wird, ohne dass andere Nutzer jemals dieselbe Seite
mit denselben Inhalten angezeigt bekommen?
Auf einer zweiten, grundsätzlicheren Ebene ließe sich das Ziel des Internet
Archive hinterfragen, die Gesamtheit des WWW automatisch zu archivieren.17 Das
Bewahren von Allem ist, wie Viktor Mayer-Schönberger unterstrichen hat, jedoch
nicht intrinsisch wertvoll.18 Er argumentiert, dass Vergessen auch im digitalen
Zeitalter nützlich und notwendig ist (vgl. Mayer-Schönberger 2008; 2009: 92ff.).
Daher besteht in der Entwicklung von brauchbaren Strategien und Technologien
des digitalen Vergessens nach Ansicht Mayer-Schönbergers eine zentrale Heraus-
forderung der zeitgenössischen Medienkultur. Das Problem ist jedoch, Wichtiges
17 | Dass die bloße Speicherung von Vergangenem nicht hinreichend ist, hat
Pierre Nora bereits in den 1980er Jahren mit seiner Kritik des archivarischen
Gedächtnisses unterstrichen, welches sich bloß der Registrierung und Bewahrung
von Spuren der Vergangenheit widme: »Es [das archivarische Gedächtnis, M.B.] stützt
sich ganz und gar auf die deutlichste Spur, den materiellsten Überrest, das sicht-
barste Bild. Die Bewegung, die mit der Schrift begonnen hat, vollendet sich im HiFi
und im Magnetband. Je weniger das Gedächtnis von innen her erlebt wird, desto
mehr bedarf es äußerer Stützen und greifbarer Anhaltspunkte einer Existenz, die
nur dank dieser noch lebt. Daher die Archivierwut, die den Menschen von heute
kennzeichnet, und die sich auf die vollständige Bewahrung sowohl der gesamten
Gegenwart als auch der Vergangenheit richtet. […] Die Erinnerung hat ganz und gar
die Form genauester Rekonstitution angenommen: ein registrierendes Gedächtnis,
das dem Archiv die Sorge überläßt sich zu erinnern und eine Vielzahl von Zeichen
hinterläßt, wo immer es sich niederläßt, wie eine Schlange ihre abgestreifte Haut.
[…] Heute, da die Historiker sich vom Kult der Quelle freigemacht haben, opfert die
ganze Gesellschaft der Religion des Bewahrens und der Archivüberproduktion. […]
Das ›papierne Gedächtnis‹, von dem Leibniz gesprochen hat, ist eine autonome
Institution aus Museen, Bibliotheken, Depots, Dokumentationszentren, Datenbanken
geworden« (Nora 1990: 19). Während das Gebot der Archivierung von allem von
außen an Archive herangetragen werde, wüssten Historiker und Archivare, dass sie
auch mit dem Vergessen betraut sind: »Heute sind es die Privatunternehmen und
die öffentlichen Verwaltungen, die Archivare mit der Empfehlung akkreditieren, daß
sie alles aufbewahren, während die Berufshistoriker und -archivare begriffen haben,
daß das wesentliche ihres Metiers in der Kunst der kontrollierten Vernichtung liegt«
(Nora 1990: 20).
18 | Mayer-Schönberger argumentiert, dass unter den Bedingungen digitaler Medien
nicht mehr das Erinnern, sondern das Vergessen zu einem Problem wird. Dies
erweise sich als eine Herausforderung, da die Menschheit im Lauf ihrer Geschichte
vor allem Strategien und Techniken gegen des Vergessen entwickelt habe: »Für
uns Menschen galt seit Jahrtausenden: Vergessen ist einfach, Erinnern ist schwer.
Vergessen steckt in uns.« (Mayer-Schönberger 2008: 9).
Digitale Datenbanken
Eine Medientheorie im Zeitalter von Big Data
- Titel
- Digitale Datenbanken
- Untertitel
- Eine Medientheorie im Zeitalter von Big Data
- Autor
- Marcus Burkhardt
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3028-6
- Abmessungen
- 14.7 x 22.4 cm
- Seiten
- 392
- Kategorie
- Informatik
Inhaltsverzeichnis
- Medium: Zwischen Konstellationen und Konfigurationen 21
- Die Frage nach den Medien 22
- Wann sind Medien? 33
- Über Medien reden: Medienepistemologie 58
- Computer: Zwischen Oberfläche und Tiefe 73
- Phänomeno-Technische Konfigurationen 75
- Spielräume der computertechnischen Informationsvermittlung 95
- Datenbank: Zwischen digitalen Sammlungen und Sammlungstechnologien 117
- Was sind Datenbanken? 121
- Datenbanklogiken: Zur Datenbank als symbolischer Form 131
- Gegen die Datenbank als Prinzip: Mikrologiken der digitalen Datenhaltung 145
- Banken, Basen, Reservoirs: Information Storage and Retrieval 149
- Information: Zwischen begrifflicher Abstraktion und technischer Konkretion 150
- Kommunikation mit Informationssammlungen 167
- Daten und Information: Begriffsklärung 187
- Techno-Logik: Apparaturen, Architekturen, Verfahren 205
- Direct Access: Zur Festplatte als Herausforderung digitaler Datenbanken 206
- Datenbankmodelle: Architekturen für Datenunabhängigkeit 221
- Data + Access: Datenmodelle und Algorithmen 242