Seite - 12 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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eine junge Frau, in ihrem Haar blinkt der Schmuck. Ein Blick weht rasch
vorüber. Sie ist verführerisch und schön, ein Symbol des Genusses. Und alle
Helden Balzacs haben in diesem Augenblicke nur einen Wunsch: Mir diese
Frau, der Wagen, die Diener, der Reichtum, Paris, die Welt! Das Beispiel
Napoleons, daß alle Macht auch für den Geringsten feil sei, hat sie verdorben.
Nicht wie ihre Väter in der Provinz ringen sie um einen Weinberg, um eine
Präfektur, um eine Erbschaft, sondern um Symbole schon, um die Macht, um
den Aufstieg in jenen Lichtkreis, wo die Liliensonne des Königtums glänzt
und das Geld wie Wasser durch die Finger rinnt. So werden sie ja jene großen
Ehrgeizigen, denen Balzac stärkere Muskeln, wildere Beredsamkeit,
energischere Triebe, ein wenn auch rascheres, so doch lebendigeres Leben
zuschreibt, als den anderen. Sie sind Menschen, deren Träume Taten werden,
Dichter, wie er sagt, die in der Materie des Lebens dichten. Zwiefach in ihrer
Angriffsweise, ein besonderer Weg bahnt sich dem Genie, ein anderer dem
gewöhnlichen. Man muß sich eine eigene Weise finden, um zur Macht zu
gelangen, oder man muß die der anderen, die Methode der Gesellschaft
erlernen. Als Kanonenkugel muß man mörderisch hineinschmettern in die
Menge der anderen, die zwischen einem und dem Ziele stehen, oder man muß
sie schleichend vergiften wie die Pest, rät Vautrin, der Anarchist, die
grandiose Lieblingsfigur Balzacs. Im Quartier Latin, wo Balzac selbst in
enger Stube begonnen hat, treten auch seine Helden zusammen, die Urformen
des sozialen Lebens, Desplein, der Student der Medizin, Rastignac, der
Streber, Louis Lambert, der Philosoph, Bridau, der Maler, Rubempré, der
Journalist – ein Cénacle junger Menschen, die ungeformte Elemente sind,
reine, rudimentäre Charaktere, aber doch: das ganze Leben gruppiert um eine
Tischplatte in der sagenhaften Pension Vauquer. Dann aber, hineingegossen in
die große Retorte des Lebens, eingekocht in die Hitze der Leidenschaften, und
wieder erkaltend, erstarrend an den Enttäuschungen, unterworfen den
vielfachen Wirkungen der gesellschaftlichen Natur, den mechanischen
Reibungen, den magnetischen Anziehungen, den chemischen Zersetzungen,
den molekularen Zerlegungen, bilden sich diese Menschen um, verlieren sie
ihr wahres Wesen. Die furchtbare Säure, die Paris heißt, löst die einen auf,
zerfrißt sie, scheidet sie aus, läßt sie verschwinden und kristallisiert, verhärtet,
versteint wiederum die anderen. Alle Wirkungen der Wandlung, Färbung und
Vereinung vollziehen sich an ihnen, aus den vereinten Elementen bilden sich
neue Komplexe, und zehn Jahre später grüßen sich die Übergebliebenen,
Umgeformten mit Augurenlächeln auf den Höhen des Lebens, Desplein, der
berühmte Arzt, Rastignac, der Minister, Bridau, der große Maler, während
Louis Lambert und Rubempré das Schwungrad zermalmend faßte. Nicht
umsonst hat Balzac die Chemie geliebt, die Werke Cuviers, Lavoisiers
studiert. Denn in diesem vielfältigen Prozeß der Aktionen und Reaktionen,
der Affinitäten, der Abstoßungen und Anziehungen, Ausscheidungen und
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131