Seite - 67 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Hymnus an den Zaren, der ihn unschuldig zum Tode verurteilt, in uns
unverständlicher Demut küßt er immer wieder die Hand, die ihn züchtigt; wie
Lazarus noch fahl vom Sarge erstehend, ist er immer bereit, Zeugnis für die
Schönheit des Lebens abzulegen, und aus seinem täglichen Sterben, aus
seinen Krämpfen und epileptischen Zuckungen, noch Schaum vor dem
Munde, rafft er sich auf, den Gott zu lobpreisen, der ihm diese Prüfung
gesandt. Alles Leiden zeugt in seiner aufgetanen Seele neue Liebe zum
Leiden, unersättlichen, lechzenden flagellantischen Durst nach neuen
Märtyrerkronen. Schlägt ihn das Schicksal hart, so stöhnt er, blutend
zusammenstürzend, schon nach neuen Schlägen. Jeden Blitz, der ihn trifft,
fängt er auf und verwandelt, was ihn verbrennen sollte, in seelisches Feuer
und schöpferische Ekstase.
Gegen eine solche dämonische Verwandlungskraft des Erlebnisses verliert
das äußere Schicksal gänzlich seine Herrschaft. Was Strafe und Prüfung
scheint, wird dem Wissenden Hilfe, was den Menschen in die Knie stürzen
soll, richtet den Dichter erst eigentlich auf. Was einen Schwächeren zermalmt
hätte, stählt diesem Ekstatiker nur die Kraft. Das Jahrhundert, das gern mit
Sinnbildern spielt, gibt eine Probe solcher Doppelwirkung gleichen
Erlebnisses. Einen anderen Dichter unserer Welt, Oscar Wilde, streift
ähnlicher Blitz. Beide stürzen sie, Schriftsteller von Namen, Adelige von
Rang, eines Tages aus der bürgerlichen Sphäre ihrer Existenz ins Zuchthaus
hinab. Aber der Dichter Wilde wird in dieser Prüfung zermalmt wie in einem
Mörser, der Dichter Dostojewski aus ihr erst geformt wie Erz in feurigem
Tiegel. Denn Wilde, der noch sozial empfindet, mit dem äußeren Instinkt des
Gesellschaftsmenschen, fühlt sich geschändet durch das bürgerliche
Brandmal, und das Furchtbarste an Erniedrigung wird ihm jenes Bad in
Reading Gaol, wo sein gepflegter Edelmannsleib in das von zehn anderen
Sträflingen schon beschmutzte Wasser hinab muß. Eine ganz privilegierte
Klasse, die Kultur der Gentlemen, schauert in seinem Grauen vor der
physischen Vermengung mit dem Gemeinen. Dostojewski, der neue Mensch
über allen Ständen, brennt dieser Gemeinsamkeit entgegen mit
schicksalstrunkener Seele, zum Purgatorium seines Stolzes wird ihm das
gleiche schmutzige Bad. Und in der demütigen Hilfeleistung eines
schmierigen Tartaren erlebt er ekstatisch das christliche Mysterium der
Fußwaschung. Wilde, in dem der Lord den Menschen überlebt, leidet bei den
Sträflingen unter der Furcht, sie möchten ihn für ihresgleichen nehmen,
Dostojewski leidet nur so lange, als Diebe und Mörder ihm noch die
Bruderschaft verweigern, denn er fühlt jeden Abstand, jede Nicht-
Bruderschaft als Makel, als Unzulänglichkeit seiner Menschlichkeit. Wie
Kohle und Diamant gleiches Element, so ist dies Doppelschicksal eines und
doch ein anderes für diese beiden Dichter. Wilde ist fertig, wie er aus dem
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131