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Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
Seite - 70 -
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Gottes Antlitz umfingen. Dostojewskis Zustand nach jedem Anfall ist ein fast idiotisches Dämmern, dessen ganzes Grauen er sich selbst im Fürsten Myschkin mit flagellantischer Deutlichkeit ausgemalt hat. Er liegt im Bett mit zerschlagenen, oft zerstoßenen Gliedern, die Zunge gehorcht nicht dem Laut, die Hand nicht der Feder, mürrisch und niedergeschlagen wehrt er sich gegen alle Gemeinschaft. Die Helligkeit des Gehirns, das tausend Einzelheiten eben in harmonischer Verkürzung umfaßte, ist zerschellt, er weiß sich der nächsten Dinge nicht mehr zu erinnern, der Lebensfaden, der ihn der Umwelt, der ihn seinem Werk verbindet, ist zerrissen. Einmal, nach einem Anfall während der Niederschrift der „Dämonen“, fühlt er mit Grauen, daß ihm nichts mehr bewußt ist von all den Geschehnissen der eigenen Erfindung, selbst den Namen des Helden hat er vergessen. Erst mühsam lebt er sich wieder in die Gestaltung hinein, treibt die erschlaffenden Visionen mit drängendem Willen wieder zu voller Glut auf, bis – bis ihn eben ein neuer Anfall hinschmettert. So, das Grauen der Fallsucht im Rücken, den bitteren Nachgeschmack des Todes auf den Lippen, gehetzt von Not und Entbehrung, sind seine letzten, die gewaltigsten Romane entstanden. Auf der Kippe zwischen Tod und Wahnsinn, nachtwandlerisch sicher, steigt sein Schaffen noch gewaltig empor, und aus diesem ständigen Sterben erwächst dem ewig Auferstandenen jene dämonische Kraft, das Leben gierig zu umklammern, um ihm sein Höchstes an Gewalt und Leidenschaft zu entpressen. Dieser Krankheit, diesem dämonischen Verhängnis dankt Dostojewskis Genie so viel (Mereschkowski hat die Antithese blendend durchgeführt) als Tolstoi seiner Gesundheit. Sie hat ihn emporgeschwungen zu konzentrierten Gefühlszuständen, wie sie dem normalen Empfinden nicht gegeben sind, hat ihm geheimnisvollen Blick verliehen in die Unterwelt des Gefühles und die Zwischenreiche der Seele. Das grandios Doppelgängerische seines Wesens, dies Wachsein im hitzigsten Traum, das Nachschleichen des Intellekts in die letzten Labyrinthe des Gefühls, hat ihn befähigt, zum ersten Male den pathologischen Geschehnissen ihre Metaphysik zu geben, und voll zu schildern, was sonst das analytische Skalpell der Wissenschaft nur unvollkommen am abgestorbenen klinischen Fall ertastet. Wie Odysseus, der Vielgewanderte, Botschaft vom Hades, so bringt er, der einzig wach Wiederkehrende, peinlichste Beschreibung aus dem Land der Schatten und Flammen und bezeugt mit seinem Blut und dem kalten Schauer seiner Lippen die Existenz ungeahnter Zustände zwischen Leben und Tod. Dank seiner Krankheit gelingt ihm das Höchste der Kunst, das Stendhal einmal formulierte, „d’inventer des sensations inédites“, Gefühle, die bei uns alle im Keim vorhanden sind und nur infolge der kühlen Klimatik unseres Blutes nicht zu voller Reife kommen, in voller tropischer Entfaltung darzustellen. Die Feinhörigkeit des Kranken läßt ihn die letzten Worte der Seele 70
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Drei Meister Balzac - Dickens - Dostojewski
Titel
Drei Meister
Untertitel
Balzac - Dickens - Dostojewski
Autor
Stefan Zweig
Datum
1920
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
134
Schlagwörter
Literatur, Schriftsteller
Kategorien
Weiteres Belletristik

Inhaltsverzeichnis

  1. Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
  2. Balzac 7
  3. Dickens 29
  4. Dostojewski 50
  5. Einklang 51
  6. Das Antlitz 54
  7. Die Tragödie seines Lebens 56
  8. Sinn seines Schicksals 66
  9. Die Menschen Dostojewskis 77
  10. Realismus und Phantastik 90
  11. Architektur und Leidenschaft 103
  12. Der Überschreiter der Grenzen 113
  13. Die Gottesqual 121
  14. Vita Triumphatrix 131
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