Seite - 129 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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hinein setzt sich diese beispiellose moralische Verurteilung seines Selbst
zugunsten des zukünftigen Wesens fort, die Vernichtung des Ichmenschen um
des Allmenschen willen. Man nehme sein Bild, seine Photographie, seine
Totenmaske und lege sie neben die Bilder jener Menschen, in denen er sein
Ideal geformt: neben Aljoscha Karamasoff, neben den Staretz Sossima, den
Fürsten Myschkin, diese drei Skizzen zum russischen Christus, zum Heiland,
die er entworfen. Und bis ins Kleinste wird hier jede Linie Gegensatz sagen
und Kontrast zu ihm selbst. Dostojewskis Gesicht ist düster, erfüllt von
Geheimnissen und Dunkelheit, jener Antlitz ist heiter und von friedlicher
Offenheit, seine Stimme heiser und abrupt, die jener Menschen sanft und
leise. Sein Haar ist wirr und dunkel, seine Augen tief und unruhig – jener
Antlitz ist hell und umrahmt von sanften Strähnen, ihr Auge glänzt ohne
Unruhe und Angst. Ausdrücklich sagt er von ihnen, daß sie geradeaus
schauen und ihr Blick das süße Lächeln von Kindern hat. Seine Lippen sind
schmal umkräuselt von den raschen Falten des Hohnes und der Leidenschaft,
sie verstehen nicht zu lachen – Aljoscha, Sossima haben das freie Lächeln des
selbstsichern Menschen über den weißen Zähnen blinken. Zug um Zug setzt
er so sein eigenes Bild als Negativ gegen die neue Form. Sein Antlitz ist das
eines gebundenen Menschen, des Knechtes aller Leidenschaften, bebürdet
von Gedanken – das ihre drückt die innere Freiheit aus, die
Hemmungslosigkeit, die Schwebe. Er ist Zerrissenheit, Dualismus, sie die
Harmonie, die Einheit. Er der Ichmensch, der in sich Eingekerkerte, sie der
Allmensch, der von allen Enden seines Wesens in Gott überströmt.
Diese Schaffung eines moralischen Ideals aus Selbstvernichtung – nie war
sie vollkommener in allen Sphären des Geistigen und des Sittlichen. Aus
Selbstverurteilung, gleichsam, indem er sich die Adern seines Wesens
aufschneidet, mit dem eigenen Blute malt er das Bild des zukünftigen
Menschen. Er war noch der Leidenschaftliche, der Krampfige, der Mensch
der kurzen tigerhaften Ansprünge, seine Begeisterung eine aus der Explosion
der Sinne oder der Nerven aufschießende Stichflamme – jene sind die sanft,
aber stetig bewegte, keusche Glut. Sie haben die stille Beharrlichkeit, die
weiter reicht als die wilden Sprünge der Ekstase, sie haben die echte Demut,
die nicht die Lächerlichkeit fürchtet, sie sind nicht wie er die ewig
Erniedrigten und Beleidigten, die Gehemmten und Verkrümmten. Mit jedem
können sie sprechen, und jeder fühlt Beruhigung an ihrer Gegenwart – sie
haben nicht die ewige Hysterie der Angst, zu kränken oder gekränkt zu
werden, sie blicken nicht bei jedem Schritt fragend um sich. Gott quält sie
nicht mehr, er befriedet sie. Sie wissen um alles, aber eben weil sie alles
wissen, verstehen sie auch alles, sie richten nicht und sie verurteilen nicht, sie
grübeln nicht nach den Dingen, sondern glauben sie dankbar. Seltsam: er, der
ewig Beunruhigte, sieht in dem gelassenen, geklärten Menschen die höchste
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131