Page - 164 - in Amerika
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schwach und voll Schonung. Der gab Karl noch rasch und ganz rücksichtslos
mit dem Knie einen vollen Stoß in den Bauch, fing dann aber, beide Hände
am Kinn, so laut zu heulen an, daß von dem benachbarten Balkon ein Mann
unter wildem Händeklatschen »Ruhe!« befahl. Karl lag noch ein wenig still,
um den Schmerz, den ihm der Stoß Robinsons verursacht hatte, zu verwinden.
Er wandte nur das Gesicht zum Vorhang hin, der ruhig und schwer vor dem
offenbar dunklen Zimmer hing. Es schien ja niemand mehr im Zimmer zu
sein, vielleicht war Delamarche mit Brunelda ausgegangen, und Karl hatte
schon völlige Freiheit. Robinson, der sich wirklich wie ein Wächterhund
benahm, war ja endgültig abgeschüttelt.
Da ertönten aus der Ferne von der Gasse her stoßweise Trommeln und
Trompeten. Einzelne Rufe vieler Leute sammelten sich bald zu einem
allgemeinen Schreien. Karl drehte den Kopf und sah, wie sich alle Balkone
von neuem belebten. Langsam erhob er sich, er konnte sich nicht ganz
aufrichten und mußte sich schwer gegen das Geländer drücken. Unten auf
dem Trottoir marschierten junge Burschen mit großen Schritten,
ausgestreckten Armen, die Mützen in der erhobenen Hand, die Gesichter
zurückgewandt. Die Fahrbahn blieb noch frei. Einzelne schwenkten auf hohen
Stangen Lampions, die von einem gelblichen Rauch umhüllt waren. Gerade
traten die Trommler und Trompeter in breiten Reihen ans Licht, und Karl
staunte über ihre Menge, da hörte er hinter sich Stimmen, drehte sich um und
sah den Delamarche den schweren Vorhang heben und dann aus dem
Zimmerdunkel Brunelda treten, im roten Kleid, mit einem Spitzenüberwurf
um die Schultern, einem dunklen Häubchen über dem wahrscheinlich
unfrisierten und bloß aufgehäuften Haar, dessen Enden lose hie und da
hervorsahen. In der Hand hielt sie einen kleinen ausgespannten Fächer,
bewegte ihn aber nicht, sondern drückte ihn eng an sich.
Karl schob sich dem Geländer entlang zur Seite, um den beiden Platz zu
machen. Gewiß würde ihn niemand zum Hierbleiben zwingen, und wenn es
auch Delamarche versuchen wollte, Brunelda würde ihn auf seine Bitte sofort
entlassen. Sie konnte ihn ja gar nicht leiden, seine Augen erschreckten sie.
Aber als er einen Schritt zur Tür hin machte, hatte sie es doch bemerkt und
sagte: »Wohin denn, Kleiner?« Karl stockte vor den strengen Blicken
Delamarches, und Brunelda zog ihn zu sich. »Willst du dir denn nicht den
Aufzug unten ansehen?« sagte sie und schob ihn vor sich an das Geländer.
»Weißt du, worum es sich handelt?« hörte Karl sie hinter sich sagen und
machte ohne Erfolg eine unwillkürliche Bewegung, um sich ihrem Druck zu
entziehen. Traurig sah er auf die Gasse hinunter, als sei dort der Grund seiner
Traurigkeit.
Delamarche stand zuerst mit gekreuzten Armen hinter Brunelda, dann lief
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik