Page - 250 - in Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild - Wien und Niederösterreich, 2. Abteilung: Niederösterreich, Volume 4
Image of the Page - 250 -
Text of the Page - 250 -
250
fabelhaften Thieren, so von der „Habergeiß", dem „Märzenkalb", dem „Waldfuchs"
(Kinderpopanz), der „Mooskuh", den schlangenartigen „Bergstutzen", dem schätze-
weisenden „Spornhahn", der „Kranlnatter" (Kronennatter), dem „feurigen Dracheu"
und anderen mehr. Auch die Sagen von weißen Frauen , verborgenen Schätzen,
versunkenen Ortschaften, die zahlreichen Burg- uud Ruiuensagen enthalten
manche eigenthümliche, oft mit der vaterländischen Geschichte verwebte Züge.
Die historische Sage in Niederösterreich hat, wie natürlich, eine reiche Aus-
bildung erfahren. Wir führen hier kurz ihre Hauptgebiete vor. In den beiden Vierteln
O. und U. W. W. steht die Erinnerung an die Franzosen- und Türkeneinfälle im Vorder-
gründe, in den Vierteln O. und U. M. B. jene an die Schweden- und Hussitenkriege. Im
Marchfelde erzählt man auch noch von den verheerenden Einfällen der Huzulen,* im
Leithagebiete besonders von den Grausamkeiten der Knrutzeu oder Krutzeu. Ebenso ist das
Andenken an den großen Bauernaufstand in Niederösterreich (zu Ende des XVI. Jahr-
hunderts) im Volke lebendig geblieben. Manche Sage oder historische Erinnerung reicht
noch weiter zurück, z. B. bis auf Karl den Großen und die Avarenkriege. Die Sage von
der Entstehung des Namens Steinakirchen (V. O. W. W.) erzählt sogar vom Rückzüge
der Hunnen und dem gewaltigen Attila, ja noch mehr, die „Wackelsteine" („Heidensteine",
„Steinschüsseln") in einigen Gegenden Niederösterreichs führen uns vollends an uralte
heidnische Opferstätten zurück. Von nationalen Sagen sind landläufig bekannt jene vom
ewigen Juden und die Faustsage.
Das niederösterreichische Volksmärchen — ein wahres Muster der Gattung —
birgt eine unerschöpfliche Fülle poetischer Schönheiten; die reiche Mannigfaltigkeit seiner
Gestalten, die wundersam verschlungenen Fäden der Handlung wie der bunte Wechsel der
Scenerien geben Zeugniß von einer rege schaffenden Phantasie, während hinwiederum
die volksthümliche Legende in so vielen zarten, lieblichen Zügen das trene Spiegelbild
des gläubigen Herzeus ist, welches au dem unmittelbaren Eingreifen höherer, himmlischer
Mächte ins Menschenleben so gerne sich erbaut und in jedweder Erdennoth Hilfe nnd
Rettung vertrauensvoll von ihnen erfleht und erwartet.
Obwohl wir hier kanm die Schwelle des Zauberpalastes überschritte« haben, welchen
der schöpferische Volksgeist aufgebaut, so dürfen wir doch zum Schlüsse ahnend es
aussprechen: dem uiederösterreichischen Volke sind vom poetischen Schatze, vom „großen
zersprungenen Edelsteine" der deutschen Nation herrliche Bruchstücke als Erbe zugefallen,
es birgt einen wahren Wunderhort in feinem Schoße, aber einen ebenso werthvollen
Talisman im Herzen, den es von altersher bis auf diese Stunde treulich bewahrt hat:
edle Einfalt, frommen Glauben und heiteren Sinn.
* Ter Stammname bedeutet hier wohl allgemein „Räuber" (Feind).
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 2. Abteilung: Niederösterreich, Volume 4
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Wien und Niederösterreich, 2. Abteilung: Niederösterreich
- Volume
- 4
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1888
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 17.75 x 26.17 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch
Table of contents
- Landschaftliche Schilderungen aus Niederösterreich 3
- Zur Vorgeschichte Niederösterreichs 123
- Zur Geschichte Niederösterreichs 145
- Zur Volkskunde Niederösterreichs 183
- Die Architektur in Niederösterreich 263
- Burgen und Wohnstätten in Niederösterreich 287
- Malerei und Plastik in Niederösterreich 305
- Volkswirtschaftliches Leben in Niederösterreich 317