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Am 20. März 1938 wirbt die Firma Odol in der Il-
lustrierten Wiener Bilder in großer Aufmachung für
ihre bekannte Zahnpasta: „Das Gefühl vollkommener
Sicherheit – zu wissen, daß Sie trotz langer Arbeits-
stunden, im Theater, in Gesellschaft und im Hause
sich wohl und sicher fühlen – Spannkraft und frische
Lebensfreude empfinden – dieses Gefühl des Wohlbe-
hagens verleiht Odol.“1 Die Annonce erscheint eine
Woche, nachdem am 12. März 1938 Truppen des na-
tionalsozialistischen Deutschen Reiches auf Hitlers
Befehl in Österreich einmarschiert sind. Am 13. März
wird das „Gesetz über die Wiedervereinigung Öster-
reichs mit dem Deutschen Reich“ beschlossen. Ab
sofort steht Österreich unter nationalsozialistischer
Herrschaft. Bereits Stunden nach dem „Anschluss“
setzt die Verfolgung und Drangsalierung der jüdi-
schen Bevölkerung ein. Angesichts dieser Repres-
salien musste den Verfolgten eine Anzeige, die „das
Gefühl vollkommener Sicherheit“, „Spannkraft und
frische Lebensfreude“ in Aussicht stellt, einigerma-
ßen deplatziert erschienen sein. Odol sieht angesichts
der aktuellen politischen Entwicklungen in Öster-
reich offenbar keinen Grund, den Text zu ändern.
Schließlich – und das ist die Kehrseite des 12. März
1938 – bewegt sich das Alltagsleben über weite Stre-
cken tatsächlich nach wie vor in den gewohnten
Bahnen. Die Solidarität mit den Verfolgten hält sich
in Grenzen. Wer nicht von den Gewaltmaßnahmen
betroffen ist, kann tatsächlich weiterhin das „Gefühl
vollkommener Sicherheit“ genießen.
Die Odol-Anzeige spiegelt die merkwürdige Am-
bivalenz zwischen Katastrophe und oberflächlicher
Kontinuität. Und dennoch: Wer Mitte März 1938 die
Presse verfolgte, wusste, dass nichts so bleiben soll-
te, wie es vor dem 12. März war. Als den deutschen
Reichskanzler die ersten Nachrichten vom erfolgrei-
chen Einmarsch seiner Truppen erreichen, macht er
sich auf den Weg, um triumphierend in Österreich
einzuziehen. Den ersten öffentlichen Auftritt hat Hit-
Demagogie in Bildern ·
Hitler in Österreich 1938 29
ler am 13. März 1938 in Linz, wo er auf dem Balkon
des Rathauses eine Rede hält. Die Presse ist längst
verständigt, Fotografen halten das Ereignis fest. Einen
Tag später wird Hitler in Wien erwartet. Er steigt im
Hotel Imperial am Ring ab. „Wien jubelt dem Füh-
rer zu!“, titelt Das interessante Blatt am 17. März und
bringt auf dem Umschlag ein Bild, das Hitler im offe-
nen Mercedes auf seiner Fahrt durch die Hauptstadt
zeigt. Die Straßen sind von Anhängern und Schaulus-
tigen gesäumt (Abb.
1).
Wenige Tage zuvor noch hatte die Zeitung offen
die österreichische Regierung unterstützt, die sich
gegen Hitlers außenpolitische Erpressung gewehrt
hatte. Nun ist alles anders. Das Blatt schwenkt unter
dem Druck der Ereignisse voll auf den NS-Kurs um.
Die Redaktion wird auf Befehl der neuen Machthaber
sogleich „gesäubert“: Unliebsame Redakteure werden
entfernt. Das interessante Blatt gibt in den Tagen nach
dem „Anschluss“ bekannt, dass die neue Regierung
vorbehaltlos Unterstützung finden werde. „So wie
das ‚Interessante Blatt‘ seit 56 Jahren seine Aufgabe
immer darin sah, dem Vaterland zu dienen, so wird
es auch heute seine ganze Kraft aufwenden, sich in
den Dienst des nationalsozialistischen Österreich zu
stellen. Die Redakteure, Beamten und Arbeiter ha-
ben den einstimmigen Beschluß gefaßt, sich in ein-
vernehmlichem Zusammenwirken der Mitarbeit an
dem nationalsozialistischen Aufbau voll und ganz zu
widmen.“2 Das Vorhaben wird sofort umgesetzt. Von
nun an huldigt die Zeitung Woche für Woche dem
neuen Regime.
Ähnliche Verlautbarungen veröffentlichen in
diesen Tagen fast alle Blätter. Am 20. März etwa heißt
es in den Wiener Bildern unter dem Titel „Heimkehr
ins Reich“ pathetisch: „Österreich ist frei gewor-
den! – der Sturm geschichtlichen Geschehens, der
frühlingshaft durch alle Gaue der Ostmark braust,
trägt den Ruf mit sich, jedem Österreicher verkün-
dend: Die alte Ostmark ist heimgekehrt ins Reich.“3
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang