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Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. - Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
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411 Am 20. März 1938 wirbt die Firma Odol in der Il- lustrierten Wiener Bilder in großer Aufmachung für ihre bekannte Zahnpasta: „Das Gefühl vollkommener Sicherheit – zu wissen, daß Sie trotz langer Arbeits- stunden, im Theater, in Gesellschaft und im Hause sich wohl und sicher fühlen – Spannkraft und frische Lebensfreude empfinden – dieses Gefühl des Wohlbe- hagens verleiht Odol.“1 Die Annonce erscheint eine Woche, nachdem am 12. März 1938 Truppen des na- tionalsozialistischen Deutschen Reiches auf Hitlers Befehl in Österreich einmarschiert sind. Am 13. März wird das „Gesetz über die Wiedervereinigung Öster- reichs mit dem Deutschen Reich“ beschlossen. Ab sofort steht Österreich unter nationalsozialistischer Herrschaft. Bereits Stunden nach dem „Anschluss“ setzt die Verfolgung und Drangsalierung der jüdi- schen Bevölkerung ein. Angesichts dieser Repres- salien musste den Verfolgten eine Anzeige, die „das Gefühl vollkommener Sicherheit“, „Spannkraft und frische Lebensfreude“ in Aussicht stellt, einigerma- ßen deplatziert erschienen sein. Odol sieht angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in Öster- reich offenbar keinen Grund, den Text zu ändern. Schließlich – und das ist die Kehrseite des 12. März 1938 – bewegt sich das Alltagsleben über weite Stre- cken tatsächlich nach wie vor in den gewohnten Bahnen. Die Solidarität mit den Verfolgten hält sich in Grenzen. Wer nicht von den Gewaltmaßnahmen betroffen ist, kann tatsächlich weiterhin das „Gefühl vollkommener Sicherheit“ genießen. Die Odol-Anzeige spiegelt die merkwürdige Am- bivalenz zwischen Katastrophe und oberflächlicher Kontinuität. Und dennoch: Wer Mitte März 1938 die Presse verfolgte, wusste, dass nichts so bleiben soll- te, wie es vor dem 12. März war. Als den deutschen Reichskanzler die ersten Nachrichten vom erfolgrei- chen Einmarsch seiner Truppen erreichen, macht er sich auf den Weg, um triumphierend in Österreich einzuziehen. Den ersten öffentlichen Auftritt hat Hit- Demagogie in Bildern · Hitler in Österreich 1938 29 ler am 13. März 1938 in Linz, wo er auf dem Balkon des Rathauses eine Rede hält. Die Presse ist längst verständigt, Fotografen halten das Ereignis fest. Einen Tag später wird Hitler in Wien erwartet. Er steigt im Hotel Imperial am Ring ab. „Wien jubelt dem Füh- rer zu!“, titelt Das interessante Blatt am 17. März und bringt auf dem Umschlag ein Bild, das Hitler im offe- nen Mercedes auf seiner Fahrt durch die Hauptstadt zeigt. Die Straßen sind von Anhängern und Schaulus- tigen gesäumt (Abb.  1). Wenige Tage zuvor noch hatte die Zeitung offen die österreichische Regierung unterstützt, die sich gegen Hitlers außenpolitische Erpressung gewehrt hatte. Nun ist alles anders. Das Blatt schwenkt unter dem Druck der Ereignisse voll auf den NS-Kurs um. Die Redaktion wird auf Befehl der neuen Machthaber sogleich „gesäubert“: Unliebsame Redakteure werden entfernt. Das interessante Blatt gibt in den Tagen nach dem „Anschluss“ bekannt, dass die neue Regierung vorbehaltlos Unterstützung finden werde. „So wie das ‚Interessante Blatt‘ seit 56 Jahren seine Aufgabe immer darin sah, dem Vaterland zu dienen, so wird es auch heute seine ganze Kraft aufwenden, sich in den Dienst des nationalsozialistischen Österreich zu stellen. Die Redakteure, Beamten und Arbeiter ha- ben den einstimmigen Beschluß gefaßt, sich in ein- vernehmlichem Zusammenwirken der Mitarbeit an dem nationalsozialistischen Aufbau voll und ganz zu widmen.“2 Das Vorhaben wird sofort umgesetzt. Von nun an huldigt die Zeitung Woche für Woche dem neuen Regime. Ähnliche Verlautbarungen veröffentlichen in diesen Tagen fast alle Blätter. Am 20. März etwa heißt es in den Wiener Bildern unter dem Titel „Heimkehr ins Reich“ pathetisch: „Österreich ist frei gewor- den! – der Sturm geschichtlichen Geschehens, der frühlingshaft durch alle Gaue der Ostmark braust, trägt den Ruf mit sich, jedem Österreicher verkün- dend: Die alte Ostmark ist heimgekehrt ins Reich.“3
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Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Subtitle
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Author
Anton Holzer
Publisher
Primus Verlag
Date
2014
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-86312-073-3
Size
23.0 x 29.0 cm
Pages
498
Keywords
Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
Category
Medien

Table of contents

  1. Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
  2. Neue illustrierte Welt Einleitung 10
  3. Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
  4. Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
  5. Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
  6. Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
  7. Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
  8. Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
  9. Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
  10. Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
  11. Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
  12. Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
  13. Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
  14. Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
  15. Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
  16. Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
  17. Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
  18. Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
  19. Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
  20. Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
  21. Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
  22. Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
  23. Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
  24. Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
  25. Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
  26. Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
  27. Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
  28. Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
  29. Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
  30. Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
  31. Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
  32. Anhang
    1. Anmerkungen 446
    2. Fotografinnen und Fotografen 1890 bis 1945 Biografische Notizen 466
    3. Literatur 483
    4. Zeitungen und Zeitschriften 490
    5. Index 491
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