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248 Politische Bilder · Die Kultur der Arbeiterfotografie
Wien, Mitte der 1920er Jahre: Das „Rote Wien“ steht
in voller Blüte, die Aufbruchstimmung der Sozialdemo-
kratie ist ungebrochen. Bei den Nationalratswahlen im
ersten Jahrzehnt nach dem Krieg erreicht die Sozialde-
mokratische Arbeiterpartei (SDAP) zwischen 35,9 Pro-
zent (1920) und 42,3 Prozent (1927) und etabliert sich
neben den Christlichsozialen als zweite große Partei.
Zwar währt ihre Beteiligung an der Bundesregierung
nur kurz, von Ende 1918 bis 1920. Aber in der Haupt-
stadt Wien gehen die politischen Uhren anders. Hier
hat die Sozialdemokratie 1918 die Macht übernom-
men und hier kann sie diese eineinhalb Jahrzehnte
lang (bis 1933/34) erhalten und sukzessive ausbauen.
Innerhalb weniger Jahre gelingt es der Partei, in der
Hauptstadt eine tief verwurzelte soziale und kulturelle
Gegenwelt zur „bürgerlichen“ Welt zu schaffen. Das
„Rote Wien“ umfasst alle Lebensbereiche: von der Ar-
beit über das Wohnen, den Sport und die Freizeit bis
hin zur öffentlichen Meinung.
Die Fotografie spielt innerhalb dieser sozialdemo-
kratischen Gegenkultur eine wichtige Rolle. In den
1920er Jahren entwickelt sich – vor allem in Wien,
teilweise auch in Graz – eine facettenreiche Arbeiter-
fotobewegung. Um sich ein Bild dieser Bewegung
um 1930 machen zu können, ist es sinnvoll, die un-
terschiedlichen organisatorischen Stränge zu unter-
scheiden.1 Bedeutsam sind die Fotosektionen des
1895 gegründeten sozialdemokratischen Touristen-
vereins Die Naturfreunde, der ab Mitte der 1920er
Jahre ein reges Vereinsleben entwickelt. Aber auch an
den Volkshochschulen werden in den 1920er Jahren
Arbeiterfotogruppen gegründet. Schließlich gibt es
eine Reihe von Berufsfotografen und Fotoamateuren,
die vor allem in der Presse veröffentlichen und sich
ebenfalls der Arbeiterfotobewegung zugehörig fühlen.
Das wichtigste publizistische Organ all dieser unter-
schiedlichen Gruppierungen ist die sozialdemokra-
tische Illustrierte Der Kuckuck, die 1929 gegründet
wurde. Sozialdemokratische und
kommunistische Parteizeitungen
Ab Mitte der 1920er Jahre ist Julius Braunthal,
der als junger Journalist in der Redaktion der Wie-
ner Arbeiter-Zeitung Erfahrungen gesammelt hat, für
den Expansionskurs der sozialdemokratischen Pub-
lizistik verantwortlich. Er ist es, der im parteieigenen
Vorwärts-Verlag auf eine Erweiterung und Populari-
sierung der parteinahen Presse drängt. Ihm schwebt
ein mächtiger sozialdemokratischer Zeitungs- und
Zeitschriftenkonzern vor, der tonangebend in der öf-
fentlichen Meinung sein sollte. 1927 gründet er mit
großem Erfolg die linke Boulevardzeitung Das Kleine
Blatt, die 1930/31 eine tägliche Auflage von 173 000
erreicht.2 Zwei Jahre später, 1929, folgt mit dem
Kuckuck eine auflagenstarke Illustrierte, die in Inhalt
und Gestaltung mit der bürgerlichen Presse nicht
nur Schritt hält, sondern diese deutlich übertrifft
(Abb.
1).3 1932 erhält Das Kleine Blatt mit der Bun-
ten Woche eine illustrierte Wochenendausgabe, ein
Jahr später, im Februar 1933, kommt die Wochenil-
lustrierte Rundfunk hinzu. Dazu kommen zahlreiche
weitere Zeitschriften und Publikationen, ebenso wie
regionale Blätter.
Die Zeitungsneugründungen der 1920er Jahre die-
nen dem Ausbau und der Festigung einer spezifisch
sozialdemokratischen Kultur. Sie richten sich explizit
gegen die Dominanz der bürgerlichen Presse und ab
etwa 1930 zunehmend auch gegen die Nationalsozia-
listen (Abb.
2). Aber auch die Abgrenzung gegen die
Kommunisten spielt, etwa bei der Gründung des Ku-
ckuck, eine gewisse Rolle. 1928, also ein Jahr vor dem
Start des Kuckuck, versucht nämlich die kommunis-
tische deutsche Arbeiter-Illustrierte Zeitung (AIZ) in
Österreich stärker Fuß zu fassen.4 Seit 21. März 1928
bringt sie eine vierseitige Österreich-Beilage heraus,
allerdings ohne großen Erfolg. Im Frühjahr 1929 wird
diese wieder eingestellt. Der Machtkampf zwischen
Politische Bilder ·
Die Kultur der
Arbeiterfotografie18
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang